1464 - Die Vergessene
nachließ. Ich bin ein Mensch aus Fleisch, aber nicht aus Blut und nicht mit der Lebensenergie versorgt, die du kennst. Deshalb muss ich etwas tun.«
»Indem du mordest?«
»Nein, so sehe ich das nicht. Ich gehe nicht mit Gewalt vor. Niemand wird Spuren an Ricks Leiche entdecken. Er starb auf eine andere Art und Weise.«
»Wie denn?«
»Sehr human!«
»Wie, zum Teufel?« brüllte Angie los, die ihre Beherrschung zu verlieren drohte.
Fatima wartete noch etwas, bevor sie sagte: »Ich habe ihn geküsst und ihm dann die Lebensenergie ausgesaugt.«
Angie Lee wunderte sich selbst darüber, wie gelassen sie diese Antwort aufnahm, wobei ihr sofort ein bestimmter Begriff in den Sinn kam.
»Wie ein Vampir?«
»Nein, das bin ich nicht. Der Vampir trinkt Blut, ich aber nehme mir die Seele eines Menschen. Wenn er sie nicht mehr besitzt, ist der Mensch tot. So einfach geht das.«
Angie Lee nickte. »Ja, so einfach ist das«, flüsterte sie vor sich hin und schüttelte den Kopf. Sie fragte sich, wo sie da hineingeraten war. Eine Antwort konnte sie sich nicht geben.
»Warum tust du das? Warum nur?«
»Weil ich mich sehr wohl fühle. Ich hätte es nicht gedacht, bevor man mich absetzte.«
»Absetzte?« flüsterte Angie. »Wieso?«
Fatima lächelte hintergründig, bevor sie fragte: »Du weißt sehr wenig über mich, oder?«
Da musste Angie zustimmen. »Ja, rein gar nichts. Du bist nicht zu begreifen, glaube ich.« Angie hielt sich jetzt, unter Kontrolle. Sie wollte nicht mehr losschreien, sondern sich nur noch zusammenreißen und Acht geben. Sie glaubte auch nicht daran, dass sie als zufälliges Opfer ausgesucht worden war. Das alles hatte Methode, und wenn sie intensiver über das vor ihr stehende Phänomen nachdachte, dann musste sie sich fragen, ob diese Person überhaupt noch als Mensch bezeichnet werden konnte.
Angie Lee glaubte nicht mehr daran. Die Orex hatte ihr eine Erklärung versprochen, und sie stellte sich auf alles ein, auch auf etwas Furchtbares, denn das war bereits mit Rick Portman passiert. So wie man ihn getötet hatte, das war unglaublich.
Angie sah, dass sich ihre nur noch einohrige Besucherin hinsetzte.
»Du kannst es auch tun, Angie.«
»Warum? Ich…«
»Setz dich. Es ist besser. Solltest du einen Fluchtgedanken haben, dann verdränge ihn ganz schnell aus deinem Kopf. Du wirst es nicht schaffen, das schwöre ich dir.«
»Nein, nein, so ist das nicht. Aber…«
»Setz dich!«
Angie gehorchte. Die letzten beiden Worte waren als Befehl ausgesprochen worden. Sie merkte, dass sie zitterte. Etwas schnürte ihren Hals zu, sodass ihr das Einatmen schwer fiel. Auch ihr Herz klopfte noch immer viel zu schnell, und der angespannte Kreislauf sorgte für eine gewisse Röte in ihrem Gesicht.
Sie nahm Platz und fühlte sich wie eine Fremde in ihren eigenen vier Wänden. Obwohl Fatima Orex lächelte, traute sie ihr nicht. Sie dachte an Rick Portman, dem sie das Leben genommen hatte. Sie sah, dass ihr ein Finger fehlte, ebenso ein Ohr. Besonders die letzte Wunde hätte heftig bluten müssen, was aber nicht der Fall gewesen war, und Angie musste wirklich davon ausgehen, dass Fatima kein Mensch mehr war.
»Hast du dich wieder gefangen, Angie?«
Angie nickte entgegen ihrer Überzeugung.
»Das ist gut. So haben wir den Spieß mal umgedreht, meine Liebe. Jetzt bin ich diejenige, die das Zepter übernommen hat. Wir sitzen hier wie in einer deiner Talkshows, nur gibt es keine Kamera, aber das spielt keine Rolle mehr. Was wir uns zu sagen haben, das ist wichtig für uns und nicht für irgendwelche andere Menschen.«
»Kann sein…«
Fatima lehnte sich entspannt zurück und schoss dabei die erste Frage ab. »Wie alt bin ich? Was glaubst du?«
»Keine Ahnung…«
»Tausend Jahre – fünftausend oder noch mehr?«
»Ich weiß es doch nicht!« flüsterte Angie scharf. »Woher soll ich das denn wissen? Du sagtest etwas von zehntausend Jahren, aber das kann doch unmöglich stimmen!«
Fatima Orex lachte leise. »Doch, es stimmt. Ich bin mindestens zehntausend Jahre alt.«
Angie hatte die Antwort gehört und schwieg. Sie wollte es nicht akzeptieren. Ihr Gehirn blockierte. Ihre Gedanken waren ausgeschaltet. Es gab keine Reaktion mehr in ihr, so hob sie nur zuckend die Schultern.
»Du glaubst mir nicht?«
»Weiß nicht. Es ist zu hoch für mich. Ich kann das alles nicht begreifen.«
»Es ist nicht leicht, das gebe ich zu. Aber ich denke, dass der Mensch sich auch mal öffnen sollte. Du liebst doch
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