1465 - Der Blutschwarm
eine Frau, die einiges erlebt und es gelernt hatte, über Hintergründe nachzudenken. Das tat sie nun, während sie weiterhin nur die Beobachterin spielte.
»Weißt du, was ich glaube, Max?« fragte Carlotta.
»Ich ahne es.«
Carlotta lachte leise. »Genau, du kannst es ahnen. Das ist wieder mal eine böse Sache. Wir sind vom Schicksal geschlagen. Und das sind auch keine Vögel gewesen, sondern Vampire.«
»Du sagst es!«
»Nur in dieser Gestalt?«
Die Tierärztin wusste, worauf Carlotta hinaus wollte. Sie nickte.
»Eigentlich will ich es nicht wahrhaben, aber ausschließen kann ich es nicht ganz. Sie brauchen das Blut, um existieren zu können.«
»Denkst du nicht auch an eine Verwandlung in einen Menschen? Das gibt es ja auch.«
»Ich weiß«, erwiderte Maxine gepresst. »Und ich hoffe nicht, dass es zutrifft.«
Carlotta sagte: »Wäre das nicht der Zeitpunkt, um John Sinclair Bescheid zu geben?«
»Darüber habe ich auch nachgedacht.«
»Und?«
»Lass uns noch warten. Wir wollen nicht die Pferde scheu machen. In der Ruhe liegt die Kraft.«
»Toll gesagt.«
Maxine gab keine Antwort mehr. Sie sah sich jetzt wieder als stille Beobachterin. Die Menschen waren aus der Kirche geströmt. So gut es ihnen möglich war, pflegten sie ihre Wunden. Es gab wohl kaum einen, der nicht von einem Biss erwischt worden war. Ob diese Attacken Folgen hatten, konnte niemand vorhersagen.
Mit Taschentüchern und mit bloßen Händen versuchten die Menschen, die Blutungen zu stoppen. Zudem sahen die Ersten zu, die Nähe der Kirche zu verlassen. Als sie gingen, blickten sie scheu zurück. Der Ausdruck der Angst in ihren Augen war nicht verschwunden. Ihre Lippen zitterten. Die meisten Kinder weinten, und auch manche Erwachsenen hatten Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten.
Carlotta wunderte sich darüber, dass von ihrer Ziehmutter nichts kam. Deshalb fragte sie: »Willst du nicht mit den Leuten reden? Ich meine, sie können uns sagen, was passiert ist und…«
»Später.«
»Und jetzt?«
Maxine wies auf die offene Kirchentür. »Jetzt werden wir uns erst mal dort drinnen umsehen.«
Carlotta drehte den Kopf. Ihr Blick glitt an der Außenfassade der Kirche in die Höhe.
»Sie sind von oben gekommen«, sagte sie. »Ich kann mir vorstellen, dass irgendwo auf dem Dach so etwas wie ein Nest ist. Ich könnte nachschauen. Damit hätte ich keine Probleme.«
»Unterstehe dich!«
»Wieso? Ich…«
»Nein, du bleibst bei mir. Es ist nicht die richtige Zeit für einen Flug.«
»Okay, wie du meinst.« Die Antwort hatte resignierend geklungen.
Maxine Wells schaute sich um. Sie wollte nicht unbedingt von den Kirchgängern gesehen werden. Man konnte nie wissen, wie man in derartigen Situationen auf Fremde reagierte, deshalb wartete sie ab, bis auch die letzten Menschen verschwunden waren. Sie wunderte sich schon darüber, keinen Pfarrer gesehen zu haben, aber den Gedanken schob sie zunächst mal zur Seite.
»Wir gehen jetzt in die Kirche, Carlotta. Ist mit dir alles okay?«
»Klar, man kann meine Flügel nicht sehen.«
»Sehr gut. Wir wissen von nichts. Wir sind einfach nur zwei harmlose Fremde, die misstrauisch geworden sind, weil plötzlich blutende und verletzte Menschen aus der Kirche flohen. Da kann uns niemand übel nehmen, wenn wir Fragen stellen.«
»Klar.«
Wenig später schabten und knirschten kleine Kieselsteine unter ihren Sohlen, als sie auf den Eingang der Kirche zugingen. Sie bekamen einen guten Blick in das Gebäude, in dem sich allerdings nichts rührte. Es war nicht nur still wie in einer Kirche, sondern sogar wie in einer Gruft. Von den Angreifern war weder etwas zu sehen noch zu hören.
Ihnen kam auch kein Nachzügler mehr entgegen, und so betraten sie das schattige Gotteshaus. Unwillkürlich richteten sich ihre Blicke in die Höhe und erfassten sehr schnell ein großes Gebälk, das von vier Pfeilern gestützt wurde.
Dicht hinter dem Eingang blieb die Tierärztin stehen und schüttelte den Kopf. Auch Carlotta ging nicht weiter. Sie schaute ebenso misstrauisch nach vorn wie Maxine.
Und sie hatte die besseren Augen, denn sie sagte: »Da steht ein Sarg im Gang.«
Den hatte Maxine bisher noch nicht gesehen. Ihr Blick fiel dorthin, und sie musste ihrem Schützling Recht geben.
Der Sarg stand schräg im Gang zwischen den Bänken. Er schien fluchtartig verlassen worden zu sein. Dass er hier überhaupt seinen Platz gefunden hatte, ließ darauf schließen, dass in dieser Kirche eine Totenmesse abgehalten worden
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