1468 - Tanz im Totenreich
sich gewünscht hätte. Über der natürlichen Farbenpracht lag ein grauer Schleier. Wie Nebel zog er sich dahin, und Marietta erlebte den Rückzug der Wärme. Es kam zu einem Luftaustausch, wobei sie deutlich die Kälte spürte, die über ihre Haut kroch. Für sie war sie die Botschaft, dass die Wende dicht bevorstand und sie etwas anderes erleben würde.
Mit beiden Händen hielt sie den Rock fest, damit er nicht durch den kalten Wind in die Höhe geweht wurde. Der Himmel hatte sich mit Wolkenbergen gefüllt, die übereinander getürmt hoch über ihrem Kopf schwebten und sich nicht von der Stelle bewegten.
Der Wind fuhr unter den Wolken her. Er brachte die Veränderung.
Er brachte das Böse an die Schwelle dieses Paradieses. Die Hölle hatte ein Tor geöffnet, um der neuen Kraft freie Bahn zu schaffen, damit sie das Paradies eroberte.
Marietta stand auf der Stelle und fror. Aber es war kein Frieren, wie sie es früher als normaler Mensch empfunden hatte, trotz der Gänsehaut auf dem Körper. Dieses Frieren kam von innen. Sie fühlte sich an ihrer Seele verletzt, und genau das war schlimm.
Und trotzdem lief sie nicht weg. Sie schaute nach vorn, dem Bösen entgegen. Es hatte sich dort gesammelt und brachte die Kälte mit, wie sie nur den Tod begleiten konnte.
Schlimme Gedanken überkamen Marietta. Sie schüttelte immer wieder den Kopf und streckte dabei sogar abwehrend ihre Arme aus, um das Böse zu stoppen.
Doch das gelang ihr nicht.
Es schwebte näher.
Es war noch nicht konkret, aber sie spürte schon, dass sich etwas in ihren Kopf bohrte und allmählich ihre Gedanken übernahm. Die Fröhlichkeit war dahin, und Marietta wusste nicht, ob sie je wieder zu ihr zurückkehren würde.
Sie stand nahe am Jenseits. Es war die Schwelle zwischen Gut und Böse, die große Grenze, und aus weit geöffneten Augen schaute sie nach vorn. Dort lauerte das Grauen. Da hatte sich das Böse manifestiert, und sie glaubte, innerhalb der grauen Wand ein schreckliches Monstrum zu sehen. Es hatte sich wie ein mächtiges Nebelgebilde erhoben und war bereit, diese Welt zu übernehmen.
Angst hatte sie erfasst.
Marietta zitterte.
Der Tod war doch nicht so schön. Oder nicht überall. Das Paradies hatte seine Tücken.
Sie stöhnte. Der Druck auf sie verstärkte sich immer noch. Sie schüttelte den Kopf, und ihr Gesicht verschloss sich allmählich und zeigte die kalte Angst, die in ihr aufstieg.
Die andere Welt hatte sich für sie geöffnet. Sie schaute tief hinein.
Sie sah etwas, das sie ängstlich und schwermütig werden ließ. Menschen, die alles andere als glücklich waren und sterben mussten. Sofort oder in nächster Zeit, das wusste sie nicht.
Frauen und Männer lagen in ihrem Blut. Die Orte wechselten blitzschnell. Mal in einem Gebäude, dann wieder unter freiem Himmel.
Und immer floss Blut.
Immer wieder hauchten Menschen ihr Leben aus. Sogar vor Kindern wurde nicht Halt gemacht. Sie starben ebenfalls, und sie sah die trauernden, aber auch die triumphierenden Menschen, von deren Händen Blut tropfte.
Das verfluchte Sterben war so schrecklich. Obwohl nichts von einem Ton untermalt wurde, hatte sie das Gefühl, Schreie zu hören, die durch ihren Kopf schnitten.
Es war eine schreckliche Qual für sie. Am schlimmsten empfand sie die Tatsache, dass sie nicht eingreifen konnte. Sie war frei, aber trotzdem eingesperrt und gefesselt.
Marietta konnte das Elend nicht länger mit ansehen. Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und wankte zurück. Bei jedem Schritt stolperte sie. Es war ihr Glück, dass sie nicht fiel. Sie ruderte mit den Armen, um sich halten zu können, und wenig später erfasste sie ein böiger und kalter Windstoß, der ihr durch die Haut bis auf die Knochen schnitt, sodass sie wie irrsinnig zu zittern begann.
Marietta konnte die Bilder nicht ertragen. Das Böse so zu erleben, war einfach zu viel für sie. Sie wollte damit nicht mehr konfrontiert sein, aber trotzdem versuchen, es mit ihren bescheidenen Mitteln zu bekämpfen.
Marietta wusste nicht, ob sie es schaffen konnte. Sie wollte es zumindest versuchen. Und so machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war.
Nur weg von dem Grauen!
Marietta erlebte die kalten Windböen, die gegen ihren Rücken stießen. Sie drehte sich nicht einmal mehr um. Sie wollte nichts vom Sterben der Menschen sehen. Das Böse durfte doch nicht stärker sein als das Gute. Und dagegen wollte sie kämpfen.
Aber wie?
Sie wusste es
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