1468 - Tanz im Totenreich
große Augen, als ich sah, dass sie anfing, vor mir zu tanzen. Es war wie in einem Ballett, in dem die Bühne für die Solotänzerin frei gemacht wurde, damit sie den nötigen Platz hatte, um ihre große Kunst zu zeigen.
Hier übernahm das Marietta, und ich war der einzige Zuschauer.
Mein Gesichtsausdruck hatte sich verwandelt. Was Marietta mir zeigte, war einsame Klasse und der perfekte Tanz.
Doch nicht ihre künstlerische Darbietung war das eigentliche Phänomen. Das erlebte ich anders, denn bei ihrem Tanz war kein einziger Laut zu hören.
Sie musste nicht atmen, sie hinterließ auch keine Geräusche, wenn sie über den Boden glitt. Die Vorführung lief in einer gespenstisch anmutenden Lautlosigkeit ab, über die ich nur staunen konnte.
Wenn ich ehrlich war, dann traf mich die Überraschung nicht zu stark. Bereits bei der ersten Begegnung war ich auf ein ähnliches Ergebnis gestoßen, und nun bekam ich den Beweis geliefert.
Sie war kein normaler Mensch. Sie war ein feinstoffliches Wesen, aber so angezogen wie ein Mensch – oder sollte ich besser sagen, wie eine Tänzerin?
Nach einer letzten Pirouette stoppte Marietta ihren Tanz, verbeugte sich graziös vor mir und ließ sich mit einem eleganten Schwung wieder in den Sessel fallen.
Ich klatschte leise Beifall.
»Hat es dir gefallen?«
»Es war großartig«, sagte ich. »Du bist Tänzerin?«
»Das war ich.«
Nach dieser Antwort runzelte ich die Stirn. »Moment, was ich hier gesehen habe, ist einsame Klasse. Du bist eigentlich noch zu jung, um den Job an den Nagel zu hängen. Um dich würde man sich in jedem Theater reißen.«
»Das weiß ich.«
»Trotzdem hast du aufgehört?« Ich stellte fest, dass sie sehr helle Augen hatte, mit denen sie mich genau fixierte und dabei sagte: »Ich tanze jetzt auf einer anderen Bühne.«
»Ach. Du bist engagiert worden, um…«
»Nein, das verstehst du falsch, John.«
»Dann kläre mich bitte auf.«
Sie neigte leicht den Kopf. »Es ist eine besondere Bühne. Sie hat zahlreiche Namen, und sie ist bei allen Völkern verschieden.«
»Wir würde ich die Bühne denn nennen?«
»Oh, das will ich dir sagen. Du würdest sie als das Jenseits bezeichnen.«
Es war heraus, und ich fühlte mich auch jetzt nicht sonderlich überrascht. Aber ich spürte schon die kalte Haut in meinem Nacken und auch auf meinen Armen.
Die nächste Frage gefiel mir selbst nicht, aber ich stellte sie trotzdem.
»Wenn du dich im Jenseits aufhältst, wieso tanzt du dann greifbar vor meinen Augen?«
»Ja, ich tanze! Aber ich möchte dir noch etwas sagen«, erklärte sie mit fast schon fröhlich klingender Stimme. »Ich lebe nicht mehr so wie du. Das kann ich gar nicht, denn ich bin tot, John…«
***
Jetzt war es heraus, und ich hatte tatsächlich das Gefühl, auf dieses Geständnis nur gewartet zu haben. Trotzdem musste ich die Frage einfach stellen. »Tot?«
»Ja, ich lebe nicht mehr.«
»Aber ich sehe dich vor mir.«
»Handelt es sich denn dabei um meinen richtigen Körper, John? Glaubst du das?«
Ich hob die Schultern. »Wenn ich ehrlich bin, kann ich es mir schlecht vorstellen.«
»Genau, so ist es auch. Die Menschen sehen uns Tote immer anders. Entweder liegen wir in Särgen, schön herausgeputzt, toll angezogen und friedlich. Oder aber sie gehen zu unseren Gräbern und sprechen mit uns, wobei es ihnen oft sehr gut tut, was wir auch toll finden. Aber es gibt eben auch bei uns Unterschiede.«
Ich blieb sehr ruhig. Auf keinen Fall wollte ich irgendwelche Hektik verbreiten. »Auch ich gebe zu, dass ich mir die Toten immer anders vorgestellt habe.«
»Das ist menschlich. Aber ich kenne dich, und ich weiß auch, dass dir die Astralleiber nicht unbekannt sind.«
»Das gebe ich gern zu.«
»Dann verstehen wir uns.«
Das war ihre Ansicht. Ich vertrat eine etwas andere Meinung und musste zunächst mal darüber hinwegkommen, dass ich praktisch einem Gespenst in meiner Wohnung gegenüber saß. Das passierte auch nicht jedem. »Du bist also tot.«
Sie lächelte. »Ja.«
»Und wie bist du gestorben?«
»Man brachte mich um.«
Ich schluckte, denn sie hatte den Satz so einfach dahingesagt, als wäre ihre Existenz das Normalste der Welt.
»Wann?«
»Es ist noch nicht lange her.«
»Und wer brachte dich um?«
»Ein Irrer. Er drang in unsere Schule ein. In die Tanzschule, wo wir übten. Hast du denn nicht von dem Fall des Amokläufers gehört, der mit einer Maschinenpistole auf Tänzerinnen losgegangen ist? Es hat eine Tote gegeben, die
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