1468 - Tanz im Totenreich
dich. Du bist bekannt in einer anderen Welt, und man hat mir deinen Namen sehr deutlich gesagt. Du bist so etwas wie ein Lehrmeister für mich. Ich soll erleben, wie du das Böse bekämpfst, und man hat mich dir zur Seite gestellt.«
»Du sollst also lernen?«
»Ja.«
Es war schwer für mich, meine Überraschung zu verbergen.
Ich hatte schon viel erlebt, aber so etwas war mir noch nicht untergekommen. Man stellte mir eine offiziell tote junge Frau zur Seite, damit ich ihr etwas beibrachte.
»Hast du noch weitere Fragen, John?«
»Und ob.« Ich musste mich räuspern. »Ich denke mal, dass du nicht von allein auf die Idee gekommen bist. Jemand muss dich aus deiner Sphäre entlassen haben.« Ich vermied bewusst den Begriff Jenseits und lauerte gespannt auf die Antwort.
»Ja, das stimmt. Ich bin nicht von allein auf die Idee gekommen. Es war ein besonderes Wesen, das mich wieder zurückschickte. Es fing mich direkt nach meinem Tod auf, als ich durch den Tunnel glitt, um das Licht zu erreichen. Aber ich geriet auf eine andere Bahn und auch in eine andere Welt hinein.«
»Als was bezeichnest du die?« Marietta lächelte weich. »Zuerst dachte ich an den Himmel, denn alles war so wunderschön. Es gab dieses Elend des Sterbens nicht mehr. Ich tanzte in einer anderen Welt. Ich bewegte mich über eine wunderschöne Wiese hinweg, und es war für mich wie der Eingang ins Paradies. Ich konnte sogar noch denken wie ein Mensch und hatte das Gefühl, im Garten Eden zu sein. Jede Sekunde, die verstrich, kam mir wie ein Wunder vor, und es war einfach herrlich für mich. Ich wollte nicht mehr weg. Aber dann musste ich auch die andere Seite erleben. Ich sah das Grauen, das Böse, das im Hintergrund lauerte. Es war so nah und doch so fern, aber es war vorhanden, und das Böse kann doch nicht im Paradies sein – oder, John?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Eben. Und so ging ich davon aus, nicht im Paradies zu sein. Ich war ganz woanders. Ich befand mich in einer Warteschleife, aus der ich erst noch entlassen werden musste.«
Ich nickte ihr zu. »Das habe ich allmählich begriffen, Marietta. Aber mir brennt noch eine Frage auf dem Herzen. Wer war es nun, der dich zurück in diese Welt geschickt hat?«
Die Antwort erhielt ich nicht sofort, weil sie zunächst noch überlegen musste.
»Waren es Geister?«
Sie hob die Schultern und murmelte dann: »Ich kann dir nicht sagen, ob es sich wirklich um Geister gehandelt hat, aber es gibt noch andere Begriffe, denke ich.«
»Kennst du einen?«
Sie schaute mich an, und ihr Blick war recht skeptisch. »Ich habe lange überlegt, nachdem ich alles mit mir habe machen lassen. Dann bin ich zu einem Schluss gekommen.«
»Ich warte, Marietta.«
Sie verengte leicht die Augen und gab eine flüsternde Antwort.
»Engel, John, es müssen Engel gewesen sein. Und diese wunderschöne Landschaft mit all ihrer Freude und Heiterkeit, die kann eigentlich nur zu den Engeln passen.«
»Du bist dir sicher?«
»Ja.«
Ich schwieg in den folgenden Sekunden, weil mir vieles durch den Kopf ging. Dass es Engel gab, die auch sehr unterschiedlich sein konnten, das wusste ich. Ich hatte sie als wunderbar erlebt, aber auch als grausam und gnadenlos. Es kam jetzt darauf an, wie Marietta zu den Engeln stand, aber schlecht schien das Verhältnis nicht gewesen zu sein.
»Kennst du Engel, John?«
Ich hob die Schultern.
»Doch, du musst sie kennen, denn sie kennen dich ebenfalls. Wäre das nicht so, dann würde ich nicht bei dir sein. Die Engel kennen dich sehr gut.«
»Soll das heißen, dass sie dich zu mir geschickt haben?«
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Ja, so ist es. Aber nicht sie haben mich geschickt, es war ein besonderer Engel, der mich geschickt hat, der mich auch in diese Welt geleitet hat. Aber wenn ich ihn beschreiben soll, dann sah er nicht so aus wie ein Engel. Oder wie man ihn sich vorstellt.«
»Ich höre dir trotzdem gern zu.«
»Ich sage dir den Namen dieser dunkelhaarigen Gestalt mit dem Schwert. Er nannte sich Raniel.«
Beinahe hätte ich gelacht, aber ich hielt mich zurück. So überraschend war diese Antwort nicht gekommen.
Es war schwer, Raniel zu beschreiben. Er hatte sich selbst den Beinamen »der Gerechte« gegeben. Er sah sich als Engel der Gerechtigkeit an, und dabei ging er seine eigenen Wege. Die Gerechtigkeit der Menschen akzeptierte er nicht. Er kannte nur seine eigene, und dabei ging er oft gnadenlos vor, wenn er sie umsetzen wollte.
Wir waren uns einige Male begegnet, und
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