1468 - Tanz im Totenreich
ging sie zur Seite und ließ sich in einem Sessel nieder. Sie streckte die Beine aus und schüttelte den Kopf.
»Habe ich was Falsches gesagt?« fragte ich.
»Nein, das hast du nicht. Du hast nur aus deiner Erfahrung gesprochen. Aber ich will gar nicht so sein wie die anderen Erscheinungen, die du kennst, John.«
»Das ist mir inzwischen klar.«
»Sehr schön. Ich wusste es. Ich hebe mich von den anderen ab. Oder man hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin.«
»Du bist also kein lebendiger Mensch und auch keine normale Tote. Liege ich da richtig?«
»So ähnlich.«
»Aber für Menschen wie mich bist du tot?«
»Ja, ich bin gestorben.« Sie nickte mir zu. »Ich lag da in meinem Blut. Mein Leben war durch die Hand eines Amokläufers vernichtet worden, aber es passierte danach etwas. Es gibt eine Kraft, die mich nicht hat sterben lassen wollen. Sie stemmte sich heftig dagegen. Aber ich bin auch keine lebende Tote, wie du dich mit deinen eigenen Augen überzeugen kannst.«
Ich lächelte und nickte ihr zu. »Ja, das sehe ich. Das ist mir schon klar. So wie du sieht keine Verstorbene aus, das möchte ich noch mal betonen.«
»Danke.«
»Aber du bist auch kein normaler Mensch mehr«, sagte ich, »und man hat dich in diesem Zustand wieder zurückgeschickt.«
»Ja.«
»Warum zu mir?« Diese Frage hatte mir schon lange auf der Zunge gebrannt, und jetzt wollte ich eine Antwort haben.
Marietta benahm sich wie eine normale Frau. Sie schlug lässig die Beine übereinander und lächelte mich an. »Kannst du dir das denn nicht denken, John Sinclair?«
»Nein, nicht wirklich.« Ich hätte raten können, aber was hätte mir das schon gebracht? Nichts, gar nichts. So setzte ich darauf, dass sie mir von allein erzählte, was ihr widerfahren war und warum sie eben mich ausgesucht hatte. Möglicherweise war ich ausgesucht worden. Ohne angeben zu wollen stand fest, dass ich der anderen Seite recht bekannt war, wie immer man diese Seite auch definieren sollte.
»Mir ist Unrecht geschehen«, sagte sie leise. »Ich habe schreckliche Schmerzen erlebt, bevor ich durch den Tod erlöst wurde. Es war grauenhaft, mit erleben zu müssen, wie das Leben aus dem eigenen Körper strömt. Dass ein böser und teuflischer Mensch einen Sieg errungen hat. Ja, er hat mich zerstört, er wollte auch noch andere Menschen vernichten. Zum Glück ist es dazu nicht gekommen. Das Schicksal hatte noch mal ein Einsehen.« Sie hob ihre Stimme an.
»Aber auch mit mir! Auch mit mir!«
»Das sehe ich«, sagte ich. »Aber bist du überhaupt begraben worden?«
»Ja, natürlich. Wir können zu meinem Grab gehen. Das ist kein Problem.«
Ich winkte ab. »Nicht jetzt, denn ich denke, dass andere Dinge wohl wichtiger sind.«
»Ja, da hast du Recht. Andere Dinge sind in der Tat wichtiger.« Sie runzelte die Stirn, und ich hatte das Gefühl, dass sie selbst als feinstoffliche Person ins Leere schauen konnte.
»Deine neue Aufgabe, Marietta, die man dir gegeben hat?«
»So ist es.«
»Wer tat es, und wie soll sie aussehen?«
In ihrem blassen Gesicht, das die mädchenhaften Züge noch nicht verloren hatte, regte sich nichts, als sie sagte: »Ich bin gekommen, weil ich für Gerechtigkeit sorgen soll.« Sie winkte ab. »Nein, vergiss es ganz schnell. Da habe ich mich falsch ausgedrückt. Ich soll etwas anderes tun. Ich bin eine Aufpasserin, eine Wächterin. Ich soll dort eingreifen, wo großes Unrecht geschieht. So sieht meine Aufgabe aus.«
Ich hielt zunächst meinen Mund. Entsprach diese Aussage der Wahrheit? In meinem Innern kämpften Glauben und Nichtglauben miteinander. Aber wenn ich einen kurzen Rückblick hielt, dann war eigentlich nichts unmöglich. Auch einen derartigen Grund konnte es geben, besonders deshalb glaubwürdig, weil Marietta ebenfalls durch eine Gewalttat ums Leben gekommen war. Sie musste bis zu ihrem Tod sehr gelitten haben. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Sie kannte die Schmerzen, die man aushalten musste, wenn man durch eine brutale Tat aus dem Leben gerissen wurde. Und jetzt war sie wieder zurückgeschickt worden. Sie war aus dem Totenreich getanzt, um andere Menschen vor grausamen Schicksalen zu bewahren. Das hatte ich mittlerweile begriffen.
Trotzdem kaute ich noch an einigen Problemen und fragte: »Weshalb bist du dann zu mir gekommen, Marietta? Oder weshalb hat man dich zu mir geschickt? Kannst du mir darauf eine Antwort geben?«
Dir Gesicht zeigte wieder ein frisches Lächeln. »Ja, John Sinclair, man kennt
Weitere Kostenlose Bücher