1470 - Der Wechselbalg
verschwunden. Er hörte aus dem Zimmer seltsame Laute. Ob es nur eine Stimme oder mehrere waren, das konnte er nicht sagen. Es war alles so anders geworden. Er dachte in diesem Moment nicht an Gefahr, die Neugierde trieb ihn voran. Trotzdem steckte er seine Waffe nicht weg.
Er drückte die Tür behutsam nach innen. Schon damals hatte er sie lautlos öffnen können, und das hatte sich zum Glück nicht geändert.
Er sah bald besser und schaute direkt auf die gegenüberliegende Wand. Dort befand sich das Fenster.
Unter ihm saß Seth. Seine fast nackte Gestalt sah irgendwie traurig aus. Er hatte die Flügel so weit ausgebreitet, dass er sich an ihnen mit dem Hinterkopf abstützen konnte. Seine Augen waren weit geöffnet und wirkten wie Kugeln. Der Mund zeigte eine Breite, die unnatürlich war. Es sah aus, als würde er grinsen.
Aber wen grinste er an?
Bestimmt nicht Wayne Rooney. Er wurde von dem Jungen überhaupt nicht wahrgenommen, denn Wayne glaubte zu sehen, dass sich Seth in einem apathischen Zustand befand.
Der Eindruck dauerte nur Sekunden, dann bewegte Seth seinen breiten Mund. Er sagte etwas, und seine Worte waren ein leises, aber scharfes Flüstern.
Rooney drückte die Tür noch weiter auf und spitzte die Ohren. Er wollte erfahren, was der Junge sagte und in welch einer Welt er sich innerlich befand.
Wayne betrat den Raum.
Und jetzt erst fiel ihm die ungewöhnliche Kühle auf, die sich zwischen den Wänden ausgebreitet hatte. Auf dem Flur war sie nicht vorhanden gewesen, nur dieses Zimmer hielt sie besetzt, und so war er sich sicher, dass Seth Besuch bekommen hatte, den nur er sah und nicht Wayne Rooney.
Etwa einen Schritt von der Tür entfernt blieb Wayne stehen. Seth veränderte seine Haltung nicht, obwohl sie unbequem war. Er flüsterte etwas vor sich hin, und es hörte sich an, als wäre er dabei, Antworten auf Fragen zu geben, die nur für ihn bestimmt waren.
Wer stellte sie?
Rooney wusste natürlich, dass er nicht allein war. Er meinte auch nicht Seth, sondern etwas anderes, das er als ein Phänomen ansah.
Es ging um die seltsame Kälte, und die wiederum musste von jemandem abgegeben worden sein, den er nicht sah.
Aber Seth schien ihn oder sie zu sehen, da er mit ihnen sprach.
Rooney wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er hatte schon einen Plan, nur zweifelte er daran, ob er ihn tatsächlich in die Tat umsetzen sollte.
Einfach hingehen, Seth an die Hand nehmen, ihn hochziehen und mit ihm das Zimmer verlassen.
Es war in der Theorie alles so leicht, nur dies in die Praxis umzusetzen, das war ein Problem, weil er nicht wusste, ob er das Richtige tat. Deshalb blieb er noch stehen, um vielleicht noch etwas aus den Antworten zu erfahren.
Seth sprach auch. Und jetzt, als sich Wayne auf seine Stimme konzentrierte, da war alles anders. Er verstand nichts. Der Junge gab Antworten in einer anderen Sprache. Auch die Stimme klang höher als normal, sehr kindlich, als wäre er in der Entwicklung stehen geblieben.
Und er schüttelte den Kopf. Dabei zog er seinen Körper zusammen wie jemand, der sich schützen will, ohne dabei seine Hände zu Hilfe nehmen zu können.
An die Kälte hatte sich Wayne Rooney gewöhnt. Es war auch nichts passiert und so sprang er endlich über seinen eigenen Schatten und ging auf den Jungen zu.
Okay, er zitterte leicht, als er sein Bein vorsetzte, aber das war ihm egal. Er musste jetzt einfach etwas unternehmen, egal, was passierte.
Er steckte auch die Waffe weg, um die Hände frei zu haben, falls er Seth aufhelfen musste.
Nie war ihm sein Zimmer so groß vorgekommen wie in diesen Augenblicken. Er durchschritt es, ließ sich dabei Zeit. Er wurde nicht angegriffen. Nur die ungewöhnliche Kälte blieb.
Seth dachte nicht daran, wegzufliegen. Er wirkte wie jemand, der sich aufgegeben hatte und es nicht schaffte, aus eigener Kraft aufzustehen und davonzulaufen. Deshalb musste Wayne ihm helfen.
»Seth?« Rooney wartete auf eine Reaktion.
Es erfolgte nichts. Seth blieb dicht vor ihm sitzen, die Hände im Rücken als Stütze, und wahrscheinlich schaute er ins Leere, ohne überhaupt etwas von der normalen Umgebung wahrzunehmen. Er hing wie gefesselt an der Wand.
Wayne fragte ihn noch einmal.
»Bitte, Seth, du kannst nicht hier bleiben. Steh auf. Wir werden gemeinsam gehen.«
Wieder reagierte er nicht, und Wayne kam zu dem Schluss, dass er handeln musste.
»Komm«, sagte er und bückte sich zugleich, wobei er die Hände vorgestreckt hatte.
Die Haut war kalt
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