1479 - Die Totenfrau vom Deichhotel
zögerlich war.
Claasen schaute auf die Uhr. »Ich darf mich dann zurückziehen, weil noch ein Termin anliegt.«
»Ist schon okay.«
Er ging, und Sigrid Böhme fragte: »Sollen wir hier bleiben?«
»Ich denke schon.« Mein Blick traf die Bilder. »Es sind schließlich Ihre Werke.«
»Ja, das sind sie.« Die Antwort hatte sie nicht eben mit stolzer Stimme gegeben. Danach kam sie auf mich zu sprechen. »Auf dem Weg hierher hat Herr Claasen mir bereits einiges über Sie gesagt, Herr Sinclair. Ich hätte nie gedacht, dass es einen Menschen wie Sie gibt, der diesem Beruf nachgeht.«
»Nun, er ist schon selten.«
Sigrid Böhme schaute mir offen ins Gesicht. »Und jetzt wollen Sie sich mit mir beschäftigen.«
»Nicht nur.« Ich wies auf die Bilder. »Auch mit Ihren Werken, die mir sehr wichtig sind.«
»Nun ja, ich versuche eben, zu malen. Ich sehe mich nicht unbedingt als Malerin, aber irgendwann packt es mich. Dann kommt es einfach über mich, da habe ich das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein, sondern eine andere Person.«
»Könnte das ein Stichwort sein?«
Sigrid Böhme senkte den Kopf, als wäre sie beschämt. »Ja, ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Da war Claas ehrlich. Er hat mich als eine andere Person gesehen, gewissermaßen als eine Totenfrau, die als Geist erscheint und sich auch von irgendwelchen Hindernissen nicht aufhalten lässt.«
»Das haben Sie sehr gut beschrieben.«
»Ja, es war leicht für mich, denn ich kann Ihnen sagen, dass ich Bescheid weiß.«
»Oh…«
»Ja, ich kenne das Phänomen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, wie es möglich ist, aber manchmal bin ich in der Lage, einen Zweitkörper zu schaffen, der eine große Ähnlichkeit mit mir hat und der sich zudem als Geist bewegt.«
»Ich denke, wir reden hier von einem Astralleib.«
»Das habe ich auch gedacht.«
»Und wie lange gibt es diesen Phänomen schon bei Ihnen, Frau Böhme?«
»Tja, einige Zeit schon.«
»Aber nicht von Jugend oder Kindheit an?«
»Nein, nein, das nicht.«
»Wann hat es denn angefangen?«
Sie dachte einen Moment nach und schaute dabei ihre Bilder an.
»Ich glaube, dass es mit meiner Malerei zu tun hat.«
Die Antwort hörte sich schon mal gut an, und ich fragte: »Inwiefern hat es damit zu tun?«
»Als ich damit anfing, die Bretter zu bemalen.«
»Die Totenbretter?«
Sie schaute mich überrascht an. »Sie kennen sich aus?«
»Nein, nicht wirklich. Das würde ich gern von Ihnen hören, Frau Böhme.«
Sie hob die Schultern. Eine fast verlegene Geste. »Ich meine, das ist relativ schnell erklärt. Die Totenbretter gehören zu meiner Heimat. Man kennt sie aus dem Bayerischen Wald, und ihre Ursprünge liegen schon Jahrhunderte zurück. Damals schrieb man das Wort Brett noch mit einem T, und die alte Schreibweise der Worte finden Sie auch auf den Brettern, die man gefunden und erhalten hat. Sie sind zudem bemalt worden. Schmerz und tiefes Leid drückten sich in den Texten aus. Wenn Sie diese lesen, können Sie wirklich von einer Volkspoesie sprechen.«
»Verstehe«, murmelte ich. »Was hat es denn genau mit den Brettern auf sich? Bitte, Sie müssen sich nicht in allen Einzelheiten ergehen, aber für einen groben Überblick wäre ich Ihnen schon dankbar.«
»Sicher, Herr Sinclair. Damit kann ich dienen. Wenn früher jemand starb, dann zog man ihm das Totenkleid über. Anschließend legte man die Leiche nicht in einen Sarg, sondern eben auf ein Totenbrett. Dort blieb der Verstorbene dann bis zur Beerdigung liegen. Zuvor wurde es zu einem Tischler geschafft, der entsprechend Maß nahm und über dem Brett ein Schutzdach errichtete. Der Schreiner hat sich auch mit dem Brett selbst beschäftigt. Er hat es zuvor gehobelt, geformt, beschriftet und es auch hin und wieder bemalt, falls er das Talent dazu hatte. Das Totenbrett war eine Erinnerung an den Verstorbenen. Alles, was sein Leben ausgemacht hatte, wurde festgehalten. Die entsprechenden Daten, die Taten, aber auch die Hinterbliebenen gaben durch selbst verfasste Reime ihrem tiefen Schmerz Ausdruck. Wenn der Tote dann in die Erde kam, war das Brett so etwas wie eine kleine Erinnerung an ihn. Ein besonderes Grabmal, ein Gedenkbrett, das an den verschiedensten Orten aufgestellt wurde. Nicht nur unbedingt auf Friedhöfen. Sie finden die Bretter am Wegesrand, in den Gärten der Häuser, in denen die Toten früher gelebt hatten. Aber auch an Hauswänden. So gab es früher mal einen Wirt, dessen Haus zahlreiche Totenbretter zierten,
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