1484 - Der Teufel von Venedig
Generationsfrage. Er verabschiedete sich mit einem Handschlag und machte sich auf den Weg zu seiner Stammbar. Er musste in die Richtung gehen, in der auch die angebliche Tote von der leichten Strömung durch den Kanal getrieben worden war. Komischerweise wollten ihm die Worte des alten Gondoliere nicht aus dem Kopf.
Es ging ja nicht nur um eine Tote. Unter den Gondolieri hielt sich das Gerücht, dass die Polizei noch nach weiteren verschwundenen Frauen suchte, und so etwas war für ein Touristengeschäft immer schlecht. Deshalb hielt man sich ja auch so sehr bedeckt.
Ihm kam noch etwas anderes in den Sinn, und mit dieser Vorstellung konnte er sich überhaupt nicht anfreunden. Wenn er unterwegs war und plötzlich eine Leiche gegen das Boot trieb, wie würde er dann reagieren?
Am besten gar nicht. Er musste diese Vorstellung aus seinem Kopf verbannen. So etwas machte ihn nur verrückt und vernebelte seinen Sinn für die Realität.
Der schmale Kanal zog sich an seiner linken Seite hin. Wenn die Stadt ausatmete und von den meisten Touristen verlassen worden war, dann machte sich auch das Wasser bemerkbar, dann hörte er das Klatschen der Wellen lauter als gewöhnlich, und manchmal hatte er auch den Eindruck, als wären dazwischen noch Stimmen, die mit ihm sprachen. Es war eine wirklich ungewöhnliche Welt, in der er sich bewegte.
Es war nicht dunkel, es war auch nicht hell. Das Wasser hatte eine dunkle Farbe angenommen, wobei auf den kleinen Wellenkämmen hin und wieder helle Spritzer erschienen und sofort wieder zerbrachen wie dünnes Glas.
Es war beileibe kein breiter Weg, auf dem sich der Gondoliere bewegte. Aber er war hier groß geworden und kam nicht einmal ins Schwanken.
Zudem war diese Seite des Kanals nicht bewohnt. Es waren die Fassaden alter Lagerhäuser, die ihn begleiteten. Hin und wieder passierte er eine Anlegestelle und sah auch die alten Flaschenzüge an den Mauern. Zu schwere Waren wurden mit ihnen von den Transportschiffen gehoben.
Gegenüber sah er ebenfalls die Rückseiten von Häusern. Hinter den oft sehr kleinen Fenstern befand sich manch prunkvoller kleiner Palazzo, in dem noch die alte Pracht der Jahrhunderte vorhanden war.
Es war Robertos Stadt. Er liebte den kontrollierten Verfall, er mochte auch den Geruch, selbst wenn es mal stank. Auch an die mehrmals im Jahr stattfindenden Überschwemmungen hatte er sich wie alle anderen Bewohner gewöhnt. Das tat dem Ruf der Stadt keinen Abbruch.
Am Ende des Kanals befand sich die Bar. Wenn er genauer hinschaute, sah er das trübe Licht der Außenleuchte, und er glaubte auch, den Geruch von Essen in der Nase zu spüren.
An Alfredos Worte dachte er nicht mehr, doch dann wurde er an sie erinnert. Es konnte ein Zufall sein, möglicherweise auch ein Wink des Schicksals, dass seine Blicke während des Gehens immer wieder über das wellige Wasser hinwegglitten.
Wie auch jetzt!
Von einer Sekunde zur anderen blieb er stehen!
In der Mitte des Kanals schwamm etwas. Zuerst dachte er an ein Stück Holz, denn oft genug wurde Treibgut vom Meer her in die Stadt geschwemmt.
Doch das war es nicht.
Holz sah anders aus.
Und es bewegte sich nicht mit schwachen Paddelbewegungen der Hände und Füße.
Genau das war hier der Fall. Roberto brauchte nicht zweimal hinzuschauen, er wusste Bescheid.
Mitten im Kanal trieb die »Tote«, von der Alfredo ihm berichtet hatte…
***
Roberto tat zunächst mal nichts. Oder er hatte das Gefühl, nichts zu tun.
Tatsächlich aber wich er zurück und drückte sich mit dem Rücken gegen die Mauer. Vieles ging ihm durch den Kopf, er sah das Wasser, er sah den Körper darin treiben, aber brachte beides nicht mehr zusammen.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis er sich wieder in der Normalität zurechtfand und sich mit dem beschäftigen konnte, was ihm der Kanal da präsentierte.
Eine Frauenleiche. Keine nackte Person. Sie trug noch ihre Kleidung, die natürlich schwer und nass geworden war und den Körper eigentlich hätte nach unten ziehen müssen.
Er schwamm aber trotzdem auf der Oberfläche, und der Gondoliere bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu, als er sah, dass sich die angebliche Leiche bewegte. Sie schwamm nicht mehr mit der Strömung. Sie hatte es geschafft, sich nach links zu drehen und schien nun ein neues Ziel anzusteuern. Es waren die Mauern des Palazzos, der mit seiner Rückseite am Kanal abschloss.
Wollte sie dorthin?
Roberto stand auf dem Fleck, staunte, atmete nur schwach und hörte seinen Herzschlag
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