1484 - Der Teufel von Venedig
allerdings seine Strahlkraft verloren hatte.
Roberto dachte nicht eben fröhlich an die vor ihm liegenden Wintermonate. Da waren die Fahrten doch stark eingeschränkt, und nur die Kollegen am Markusplatz hatten noch gut zu tun, denn ihre Boote lagen dort wie auf dem Präsentierteller. Dort einen Liegeplatz zu bekommen war fast unmöglich, die wurden ähnlich wie manche Dauerkarten für einen Fußballverein vererbt.
Leider war Robertos Vater kein Gondoliere gewesen. Er besaß eine kleine Bäckerei in Mestre, der Nachbarstadt, und Roberto wusste, dass er bald dort einen halben Tag lang eingesetzt wurde, um der Familie zur Hand zu gehen. Er bekam sogar einen Lohn dafür, und so konnte der 25jährige Gondoliere die schlechteren Zeiten gut überbrücken.
Das Trinkgeld der Amis war auch mäßig gewesen, und Roberto überlegte, ob er sich noch in einer der kleinen zahlreichen Bars einen Drink gönnen sollte.
Seine Stammbar lag zwar auch an einem Kanal und erlebte bei Hochwasser böse Zeiten, aber man hatte sich daran gewöhnt, und wenn es dann mal wieder so weit war, halfen alle Gäste mit, sie abzudichten.
Von seinem Liegeplatz aus war die Bar zu Fuß in ein paar Minuten zu erreichen. Der Gondoliere lenkte sein Boot geschickt durch eine schmale Wasserstraße und vorbei an den alten Fassaden der Häuser, die aussahen, als würden sie jeden Augenblick zusammenbrechen, aber im Innern oftmals eine Pracht aufwiesen, über die die Besucher nur staunen oder den Kopf schütteln konnten.
Die Lücke an der Anlegestelle für seine Gondel war frei gelassen worden. Quer zu den Wellen lenkte Roberto das Boot genau an den richtigen Platz. Dann sprang er von Bord, hielt das Tau bereits fest und wand es um den dafür vorgesehenen Pfosten.
Er sprang auf das alte Pflaster und ging auf den alten Mann zu, der auf einem Poller saß und eine Zigarette rauchte. Alfredo saß fast jeden Tag an diesem Ort und trauerte den Zeiten nach, in denen er noch Gondel gefahren war. Jetzt war er dazu viel zu alt, aber er schaute dem Trubel gern zu.
»Du bist spät dran, Roberto.«
»Si. Ich hatte noch eine Fahrt.«
»Sei froh, bald fangen wieder die schlechten Zeiten an.«
»Ach, die gehen auch vorbei.«
»Du sagst es. Bist du wieder bei deinem Vater?«
»Hin und wieder schon.«
Alfredo lächelte. »Es ist immer gut, wenn die Kinder sich noch an ihre Eltern erinnern. Glaub es mir. Ich bin auch froh, dass ich bei meiner Tochter wohnen kann.«
»Klar.« Auch Roberto holte eine Zigarette aus der Schachtel. »Wir sieht es sonst so aus?«
Alfredo schaute über das Wasser, das nie ganz ruhig war und sich auch jetzt mit einer gewissen Unruhe bewegte.
»Es ist vieles verborgen«, sagte er schließlich. »Gutes und auch Böses.«
»Aha. Böses?«
»Ja.«
»Und was?« fragte Roberto.
»Ich habe wieder eine Leiche gesehen. Sie trieb durch das Wasser, und ich kann einfach nicht glauben, dass die Frau tot war. Ich bin mir sicher, dass sie sich noch bewegt hat.«
Roberto schluckte. »Und wohin trieb sie?«
Der alte Alfredo drückte den Schirm seine Mütze etwas hoch und deutete in eine bestimmte Richtung.
»Da muss ich hin«, sagte Roberto.
»Willst du noch was trinken?«
»Ja, den einen oder anderen Drink.«
»Dann kannst du sie vielleicht noch sehen.«
Roberte schaute zum Himmel, dessen rötlicher Schein verschwunden und der jetzt mit grauen und fahlweißen Tüchern bedeckt war.
»Ich will nichts mehr sehen. Ich habe etwas gesehen, und ich habe es auch der Polizei erzählt. Und was ist passiert? Nichts. Man hat es zur Kenntnis genommen und mich zum Schweigen vergattert.«
»Man will eben keine Unruhe. Die Touristen dürfen nicht verunsichert werden. Sie bleiben aus, wenn hier etwas Unheimliches geschieht.«
»Das kann ich verstehen. Aber warum tun die Bullen nichts und lassen alles so laufen?«
»Ich kann es dir nicht sagen. Vielleicht tun sie ja was. Nur merken wir es nicht.«
Roberto hob die Schultern. »Schon möglich. Ich kümmere mich jedenfalls nicht mehr darum.«
»Aber ich habe die Tote im Kanal gesehen, und sie hat sich noch bewegt.«
»Unsinn.«
Alfredo runzelte die Stirn. »Sag nicht so etwas, mein Junge! Sag so was nicht. Es gibt vieles auf dieser Welt, was wir nicht begreifen können, das sage ich dir. Sehr vieles sogar. Und dazu gehört auch, dass…«
»… die Toten nicht tot sind?«
»Ja, vielleicht.«
Roberto schüttelte den Kopf. Nein, er war anderer Meinung als der alte Alfredo. Aber das war wohl eine
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