15 - Im Schatten des Grossherrn 04 - In den Schluchten des Balkan
bin weder Arzt noch Chirurg, also kein Fachmann, aber ich bemerkte doch zu meiner Befriedigung, daß der Hekim, welcher den gebrochenen Arm eingerichtet hatte, kein Dummkopf gewesen war.
Freilich sah der arme Junge wie das leibhaftige Hungerleiden aus.
„Hier dürft ihr nicht wohnen bleiben“, sagte ich zu seiner Mutter. „Hier wirst du niemals gesund.“
„Herr, wo soll ich hin?“
„Fort, nur fort!“
„Das ist leicht gesagt. Ich kann ja kaum diese Wohnung hier bezahlen.“
„So sorge ich für eine andere.“
„Oh, wenn du das tun wolltest!“
„Was ich kann, das tue ich. Ich bin zwar hier fremd und komme soeben erst an, aber ich hoffe, daß ich dir doch dienen kann.“
„Und auch ein Mittel für mein Reißen willst du mir geben?“
„Ich brauche es dir nicht zu geben. Du kannst es dir holen. Weißt du, was eine Birke ist?“
„Ja, ganz gut.“
„Und gibt es solche Bäume hier?“
„Nicht häufig; aber man findet sie doch.“
„Nun, das Laub dieser Bäume ist das beste Mittel für dein Leiden.“
„Ist es möglich? Birkenlaub soll gegen diese schmerzhafte Krankheit gut sein?“
„Ja, wie ich sage. Ich habe es selbst an mir erfahren. Es gibt wilde Völker, welche keine Ärzte haben und ihre Krankheiten nur mit solchen einfachen Mitteln heilen. Von ihnen habe ich es erfahren, daß das Laub der Birke den Rheumatismus heilt. Als ich dann selbst sehr an demselben litt, habe ich das Mittel erprobt und es als ausgezeichnet gefunden.“
„Und wie wendet man es an?“
„Man hat zu warten, bis es regnet. Dann streift man das nasse Laub mit den Händen von den Zweigen, so daß es ganz naß ist, und trägt es schnell heim, da es nicht trocken werden darf. Dann umhüllt man das kranke Glied sehr dick mit diesem Laub und legt sich nieder. Sind die Beine krank, so steckt man sie in einen Sack, welcher mit Laub gefüllt ist, bindet diesen über den Hüften zu und legt sich nieder. Bald wird man in Schlaf fallen und sehr schwitzen, weshalb man sich sorgfältig zudecken muß. Der Schweiß des kranken Gliedes und das Wasser des Laubes tropfen förmlich aus der Umhüllung hervor. Man schläft lange und tief. Wenn man erwacht, so steht man auf und findet die Krankheit, wenn sie nur eine leichte war, verschwunden. Bei schweren Fällen, wie der deinige es ist, muß man die Einhüllung wiederholen.“
Die Frau hatte mir sehr aufmerksam zugehört. Jetzt fragte sie:
„Darf man das Laub nicht auch holen, ohne daß es geregnet hat, und es dann mit Wasser naß machen?“
„Nein. In diesem Fall hat es keinen Erfolg. Es ist eine angreifende Kur; darum solltest du vor derselben ja keinen Hunger leiden.“
Sie senkte traurig den Blick.
„Effendi, wenn ich nichts habe, so kann ich nichts essen. Ich wollte gern hungern, wenn ich nur nicht meine Kinder jammern sähe.“
„Dem wollen wir abhelfen. Ein guter Freund gab mir eine kleine Summe mit, um sie einem würdigen Armen zu schenken, wenn ich einen solchen während meiner Reise finden sollte. Was denkst du: soll ich dir das Geld geben oder soll ich warten, bis ich eine andere Gelegenheit finde?“
Sie erhob den leuchtenden Blick zu mir.
„Effendi!“
Sie sagte nur dieses eine Wort, aber es klang aus demselben eine ganze Fülle von Bitte, Scham und Dank.
„Nun, soll ich?“
„Wieviel ist es denn?“
„Zwei Pfund.“
„Pfund? Das kenne ich nicht. Wie viele Para sind das?“
„Para? Es ist mehr, viel mehr!“
„Wohl gar einige Piaster?“
„Zwei Pfund sind zweihundert Piaster.“
„O Himmel!“
Sie wollte die Hände zusammenschlagen, aber der Schmerz hinderte sie, es zu tun.
„Und weil es zwei Goldstücke sind, so wird man dir, wenn du sie wechseln ließest, zweihundertundzehn Piaster dafür geben müssen.“
Ich hatte von dem Geld, welches ein Geschenk Hulams in Adrianopel war, die angegebene Summe herausgenommen und hielt sie der Armen hin. Sie aber trat zurück.
„Effendi, du scherzest!“
„Nein, es ist mein Ernst. Nimm!“
„Ich darf nicht.“
„Wer verbietet es dir?“
„Niemand. Aber eine so hohe Gabe – – –“
„Sprich nicht weiter! Derjenige, welcher mir diese Summe gab, ist sehr reich. Hier, stecke das Geld ein, und wenn du es wechseln lassen willst, so geh' zu einem ehrlichen Mann. Kaufe Speise für dich und die Kinder. Lebe wohl. Morgen komme ich wieder.“
Ich drückte ihr das Geld in die gekrümmten Hände und eilte fort. Sie kam mir nach, aber ich winkte energisch zurück, so daß sie sich doch
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