15 - Im Schatten des Grossherrn 04 - In den Schluchten des Balkan
Schaflaus.
Es kribbelte mir in den Händen, und siehe da: ich konnte jetzt zwei Fäuste machen anstatt, wie vorhin, nur eine. Es war mir ganz so, als ob ich noch lebe und gar nicht gestorben sei. Wenigstens war der Wunsch, den ich hatte, ein sehr irdischer: er bezog sich auf die keineswegs übersinnliche Tätigkeit, welche der Türke mit den drei gleichbedeutenden Wörtern döjmek, wurmak und dajak jedirmek, der Deutsche aber mit dem liebenswürdigen Ausdruck ‚prügeln‘ bezeichnet.
Wie kam es nur, daß mein Kopf jetzt nicht mehr so brannte und schmerzte? Auch schien seine vorhin beschriebene Ausdehnung außerordentlich abgenommen zu haben.
„Kulibede dir – er ist in der Hütte“, antwortete der Bettler.
„Zindschirde-a – doch gefesselt?“ fragte der Mann, welcher mich Schaflaus genannt hatte und dessen Stimme ich nicht kannte.
„Ewwet, andschak dejil la iladsch – ja, aber nicht notwendigerweise.“
„Nitschün – warum?“
„Tschünki dir müteweffa – weil er tot ist.“
Die Stimmen sanken zu einem Gemurmel hernieder. Erst nach einiger Zeit hörte ich wieder den lauten Befehl:
„Onu bana giösteryn – zeigt ihn mir!“
Sie kamen herein in die Hütte, und der Bettler sagte: „Bunda jatar – hier liegt er.“
Eine Hand legte sich auf mein Gesicht und blieb da eine Weile prüfend liegen; sie roch wie Schusterpech und saure Milch.
Also ich hatte den Geruchssinn nicht verloren. Ich war am Ende doch nicht tot! Dann sagte der Besitzer der Hand:
„Sowuk ölümin gibi – kalt wie der Tod!“
„Ona namzyna hak – befühl' ihm den Puls!“ hörte ich den dicken Bäcker sagen.
Die Pech- und Milchhand glitt von meinem Gesicht hinweg und faßte mich am Handgelenk. Der Daumen legte sich prüfend auf den oberen Teil des Gelenkes, wo von einer Pulsader kaum was zu fühlen ist. Dann sagte der Mann nach einer Pause allgemeiner Spannung:
„Onun jok damar woruschu – er hat keinen Pulsschlag.“
„El ile dokan jüreksijy – befühle sein Herz!“
Im nächsten Augenblick fühlte ich die Hand auf meiner Brust. Es schien gar nicht nötig gewesen zu sein, einen Knopf zu öffnen. War Jacke und Weste bereits geöffnet gewesen? Oder hatten mich die guten Menschen vielleicht von diesen Kleidungsstücken befreit?
Ich hätte mich gern davon überzeugt; aber ich konnte die Augen nicht öffnen, und selbst wenn ich dies vermocht hätte, so wäre es mir nicht eingefallen, es zu tun.
Die Hand hatte mir nur einen Augenblick lang auf dem Herzen gelegen; dann glitt sie nach der Magengegend und blieb dort ruhen. Hierauf erklärte das Orakel:
„Gönnülü sessini tschikarmar – sein Herz schweigt still.“
„Dir ölmüsch onun itschün – folglich ist er tot!“ erklang es rund im Kreis.
„Kim onu öldürmisch – wer hat ihn getötet?“ fragte der Mann, dessen Stimme ich nicht kannte.
„Ben – ich!“ erklang es kurz.
„Nassyl – wie?“
„Tepelemisch onu – ich habe ihn erschlagen.“
Dies sagte der Mann im Ton einer Genugtuung, welche mir die beruhigende Überzeugung brachte, daß mein Blut in Bewegung sei. Ich fühlte es nach den Schläfen steigen. Wer noch Blut hat, das sich in den Adern bewegt, der kann nicht tot sein. Ich lebte also noch; ich lag in Wirklichkeit auf dem Laubhaufen und war also nur besinnungslos gewesen.
Der dicke Bäcker schien doch noch einige Besorgnis zu hegen. Er wollte kein Mittel, sich von meinem Tod zu überzeugen, unversucht lassen; darum fragte er:
„Soluk malik olmar – hat er Atem?“
„Kulak asar-im – ich will horchen!“
Ich fühlte, daß sich jemand zu mir niederlegte. Dann rieb sich eine Nase an der meinigen. Ich bekam einen Duft von Knoblauch, Tabakschmirgel und faulen Eiern zu genießen; dann erklärte der Betreffende:
„Onun jok nefes – er hat keine Luft.“
„Sabuscha-lum – entfernen wir uns!“
Dieser Befehl befreite mich endlich von der Sorge, daß man doch noch Leben in mir verspüren werde. Aber wäre es nicht vielleicht besser gewesen, wenn sie bemerkt hätten, daß ich nicht tot sei? Ich befand mich nicht im Gebrauch meiner Glieder, dafür aber in der fürchterlichen Gefahr, lebendig verscharrt zu werden.
Es befiel mich Angst. Ich fühlte, daß es mich erst eiskalt und dann glühend heiß überlief. Ich begann zu schwitzen. Die Leute hatten sich an das Feuer gesetzt. Sie verhielten sich schweigend. Vielleicht waren sie zunächst mit dem Fleisch beschäftigt, dessen Duft bis zu mir drang.
Meine Lage
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