1505 - Dorina, die Friedensstifterin
konnte, sah er ihr an, was sie dachte, und das irritierte sie. „Paß auf", sagte er leise. „Achte genau darauf, was ich dir jetzt sage: Ich habe das Talent!"
Sie starrte ihn verwirrt an. Sie sah die Zeichen und konnte sie deutlich lesen. Sie waren klar und deutlich: Garyo log. „Und nun anders herum", fuhr er fort. „Ich habe das Talent nicht."
Und auch das war eine Lüge: Die Zeichen sagten das Gegenteil dessen, was die Worte meinten.
Er lachte. „Körpersprache", sagte er. „Es gehört zu den Dingen, die du hier lernen wirst. Und du wirst lernen. Nicht unter Zwang - das wäre totaler Unsinn. Du wirst lernen wollen. Das was wir dir hier beibringen können, das ist all das, was dich so - sehr fasziniert und worüber du von deinem Lehrer nichts erfahren konntest."
„Aber wenn all das bekannt ist - warum hat er es dann nicht gewußt?" fragte Dorina verwirrt. „Was ist so geheimnisvoll daran? Warum muß man es verschweigen? Und warum war in den Reden und Vorträgen, die ich gefunden haben, nichts davon zu merken?"
„Weil es sich nicht aufzeichnen läßt", sagte Garyo. „Es besteht nicht nur aus dem, was du hörst und was du siehst, sondern auch all deine anderen Sinne sind daran beteiligt - und was die dir vermitteln, das läßt sich auch mit der modernsten Technik nicht festhalten und wiedergeben. Darum kann man es auch nicht mit Hilfe technischer Geräte lehren. Für diesen Unterricht braucht man keine Computer, sondern lebendige Lehrer. Wir haben hier sehr gute Lehrer. Aber selbst die allerbesten Lehrer können dir nichts beibringen, wenn du nichts lernen willst."
„Wirst du mein Lehrer sein?"
„Für den Anfang, ja. Du wirst in der ersten Zeit noch keiner Lerngruppe zugeteilt. Wir müssen mehr über dich und dein Talent erfahren, bevor wir es wagen können, dich mit anderen Schülern zusammenzubringen."
„Ich werde ihnen nicht drohen", versicherte Dorina schnell. „Das würde ich dir auch nicht raten", sagte Garyo und lachte. „Es könnte nämlich sehr leicht geschehen, daß dir das Echo nicht bekommt. Dies ist eine ganz besondere Schule. Hier werden nur Schüler aufgenommen, die dieses ganz spezielle Talent haben, und zwar in sehr hohem Maß. Du solltest dich besser nicht mit den anderen anlegen."
„Sie können es alle?"
„Ja. Alle. Auch Virram. Er ist sogar einer der besten."
„Was ist das Talent?" fragte Dorina neugierig.
Der Schlichter sah sie nachdenklich an. „Eine Begabung wie jede andere auch", sagte er schließlich. „Ein Geschenk der Natur - und darüber, was man unter einem solchen Geschenk zu verstehen hat, ist schon sehr viel gesagt und geschrieben worden. Es ist und bleibt ein Rätsel, auf welche Weise solche Talente entstehen. Aber eines ist sicher: Es wäre sehr dumm, eine solche Gabe zu verschwenden. Wer etwas Besonderes kann, der soll dieses Besondere auch tun, was immer es ist - es sei denn, es handelt sich um etwas, das sich gegen das Leben richtet."
„Aber wie funktioniert es? Wie kann man es lernen?"
„Lernen kann man es, indem man es übt. Aber um es üben zu können, muß man das Talent haben. Wenn das Talent fehlt, ist aller Fleiß vertan. Daß du das Talent hast, wissen wir bereits. Wie es bei dir um den Fleiß bestellt ist, müssen wir erst noch herausfinden. Übrigens - wenn jemand das Talent hat, ist die Grundausbildung Pflicht. Wir können und dürfen es nicht zulassen, daß jemand hingeht und auf eigene Faust damit herumexperimentiert. Du wirst also in jedem Fall für einige Zeit in Hajmayur bleiben müssen."
„Wenn ich gewußt hätte, worum es hier geht, wäre ich von selbst gekommen", bemerkte Dorina. „Aber wie funktioniert es?"
„Lerne erst, es zu kontrollieren", sagte Garyo ruhig. „Alles andere kommt später. Du hast noch viel Zeit.
8.
Hajmayur, 335. Lektion Der Meister fragte: „Was ist die erste Funktion der Sprache?"
Die Schülerin antwortete: „Sprache dient zuerst der Definition des eigenen Seins. Mit Hilfe von Begriffen definieren wir, wer, was, wie, wo und wann wir sind. Indem wir einzelne Begriffe austauschen, definieren wir Veränderungen.
Mit Hilfe von Veränderungen beschreiben wir die Zeit. Mit Hilfe der Zeit teilen wir unsere Wirklichkeit auf in das, was war, was ist, was sein wird."
*
1154 NGZ, Hajmayur/Vaccer-Farm Sie hatte sich eingelebt. Sie empfand die Schule schon längst nicht mehr als ein Gefängnis, und ihr Zimmer in Hajmayur war auch nicht mehr leer und kalt. Ab und zu landete ein Mi’inah
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