1505 - Dorina, die Friedensstifterin
auf dem Fensterbrett. War Dorina alleine, dann kam er herein, kletterte auf ihrem Kopf herum, setzte sich auf ihre Schulter und wisperte ihr mit seiner honigsüßen Stimme etwas ins Ohr. War Garyo bei ihr, dann blieb der Mi’inah vorsichtshalber in der Nähe des Fensters. Entdeckte er aber einen der anderen Schüler in Dorinas Zimmer, so flog er wieder davon.
Eines Tages rief Garyo sie zu sich. Sie war zur Zeit nicht gut auf ihn zu sprechen, und so ging sie nur zögernd und widerwillig zu ihm. Er wußte haargenau, wie ihr zumute war, aber er wäre nicht Garyo gewesen, wenn er darauf eingegangen wäre. Er führte zweifellos irgend etwas im Schilde, denn die Zeichen, die er gab, waren völlig neutral. „Es ist die Zeit der Nachernte", sagte er. „Es wird Zeit für dich, für einige Tage auf die Farm deiner Eltern zurückzukehren."
Sie kannte den Grund: Es war üblich, am Tag der Geburt den Kima-Strauch aufzusuchen. Für die meisten Schüler war das kein Problem, denn ihre Lebenssträucher standen draußen vor der Veranda, samt den Töpfen, in denen sie wuchsen.
Sie hatte ihre Eltern schon so oft besucht, aber sie fand, daß es jedesmal schwieriger wurde.
Segur und Warna waren ihr fremd geworden. Wären nicht der Kima-Strauch und der Sluck gewesen, so hätte es längst nichts mehr gegeben, was sie nach Hause zog. „Der Kima-Strauch ist auf derartige Besuche nicht angewiesen", bemerkte sie. „Ich würde lieber nicht fahren."
Garyo sah sie nachdenklich an. „Dies ist eine Schule", sagte er schließlich. „Keine Zuflucht, in der man sich vor der Welt verkriechen kann.
Deine Ausbildung dient nicht dem Zweck, dich der Welt zu entfremden. Also - wirst du fahren?"
„Warum überzeugst du mich nicht einfach davon, daß es mir Spaß machen würde?" fragte sie. „Das könntest du doch!"
„Ich bin mir dieser Tatsache bewußt", erwiderte er mit leisem Spott. „Es würde es leichter für mich machen."
„Gewiß."
„Andere Lehrer tun es auch."
Seine nach vorne gebürsteten Augenbrauen hoben sich. „Bist du immer noch nicht draußen?"
Sie hatte es plötzlich sehr eilig, aus dem Zimmer zu kommen, und noch auf dem Weg zur Gleiterstation glaubt sie, seinen Blick in ihrem Rücken zu spüren. Es war ein sehr unangenehmes Gefühl. Seit einigen Wochen glaubte sie ständig, diese Blicke zu fühlen, und Garyos Augen verfolgten sie sogar bis in ihre Träume hinein.
Bis in ihre Alpträume, um es genauer zu sagen.
Während des Fluges dachte sie darüber nach, wie es zu dieser Situation hatte kommen können.
Nach den anfänglichen Schwierigkeiten hatte sie sich sehr gut mit Garyo verstanden. Nur eines störte sie: Daß er niemals auch nur den leisesten Versuch unternahm, ihr das Lernen zu erleichtern.
Sie hatte ihn schon oft genug begleitet, wenn er in der Stadt seiner Tätigkeit als Schlichter nachging. Sie hatte Linguiden gesehen, die so voller Haß und Zorn aufeinander waren, daß sie zu explodieren drohten, wenn sie einander auch nur von weitem erblickten. Und sie hatte Kranke gesehen, schon vom Tod gezeichnet, voller Angst und Zweifel, und die Angehörigen dieser Kranken, denen der bevorstehende Verlust die Worte raubte.
Ein Gespräch mit Garyo, und die Kampfhähne gingen versöhnt nach Hause, die Kranken vergaßen die Angst vor dem Tod, die Trauernden waren getröstet.
Sie wußte, was er konnte, und sie bewunderte ihn dafür. Aber manchmal ging er ihr gewaltig auf die Nerven.
Die Gewißheit, daß er nur ein paar Worte gebraucht hätte, um das zu ändern, machte es nicht gerade leichter.
Immer wollte er, daß sie eigene Entscheidungen traf. Alles sollte sie aus eigenem, freiem Willen tun. Und wenn sie müde war und sich nicht konzentrieren konnte, dann verlangte er von ihr, daß sie sich zusammenriß. Nie half er ihr mit einer kurzen Bemerkung wieder auf die Sprünge, wie alle anderen Lehrer es taten - bei anderen Schülern, wohlgemerkt. Denn bei Dorina taten sie alle so, als hätten sie diesen Trick nie gelernt.
Er hatte sie aufgehetzt. Ganz sicher war es so. Er hatte ihnen irgend etwas über Dorina Vaccer erzählt, über dieses große Talent aus der Wildnis, an dem man nicht herumpfuschen dürfe, und da er der beste Schlichter im ganzen Kaokrat-System war und es eine ungeheure Ehre für Dorina bedeutete, wenn er sich überhaupt dazu herabließ, sie zu unterrichten, hörten sie auf ihn.
Aber, Dorina war diejenige, die darunter zu leiden hatte.
Manchmal wünschte sie ihm eine ganze Horde Autras auf den
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