1511 - Der letzte Engel
Gehen? Die Umgebung absuchen?
Ich gehöre nicht zu den Menschen, die gern auf etwas warten. Ich wollte selbst aktiv werden und mich in dieser verschwommenen und wahrscheinlich auch verwunschenen Welt umschauen. Es konnte ja sein, dass ich auf die Lösung traf.
Die blieb mir vorerst verborgen. Wohin ich mich auch begab und wohin ich auch schaute, es gab nichts anderes als diese Nebelschwaden aus einem rotgelben Dunst.
Kein Gebäude, erst recht kein Mensch.
Es war die Gleichheit der Farben, die mich schon nach kürzer Zeit durcheinanderbrachten und auch meinen Kreislauf beeinflussten. So blieb ich erst mal stehen, um mich zu erholen.
Die Stille um mich herum veränderte sich nicht. Sie blieb bestehen und kam mir sehr dicht vor.
Ich wusste auch nicht, ob ich immer in dieselbe Richtung gegangen war.
In dieser farbigen Nebelsuppe war ein Verirren leicht möglich. Ich musste damit rechnen, im Kreis gelaufen zu sein.
Deshalb blieb ich stehen.
Es war mir jetzt egal, was die andere Seite dachte, wichtig war, dass sie etwas tat. Sie hatte mich hierher geschafft, so sollte sie sich auch weiterhin um mich kümmern.
Das geschah tatsächlich. Und es fing schleichend an. Zunächst wollte ich es nicht glauben und dachte an eine Täuschung. Bei näherem Hinsehen allerdings stellte ich fest, dass ich mich nicht geirrt hatte.
In meiner Umgebung - und zwar nicht mal weit entfernt - war es tatsächlich heller geworden. Als wäre hinter einem dieser rotgelben Streifen ein geheimnisvolles Licht aufgegangen.
Alles andere war von nun an vergessen. Mich interessierte einzig und allein das Licht. Es war, als würden die Strahlen einer besonderen Sonne diese Schleier durchbrechen.
Und es passierte.
Aber nicht die Sonne ging auf, wie man hätte annehmen können, es geschah etwas ganz anderes. Ich schaute nach vorn, sah dort einen hellen Fleck wie eine Insel und entdeckte die Gestalt, die auf einem kleinen Steinhaufen saß und mir entgegenschaute. Er war mein Retter!
***
Ich wusste nicht, ob ich froh darüber sein sollte, dass die Suche nun ein Ende hatte, aber wenigstens war diese bedrückende Einsamkeit endlich vorbei. Ich konnte mich nun um diese Gestalt kümmern, die auf dem Steinbuckel ihren Platz gefunden hatte.
Sie hockte mehr. Das linke Bein hatte sie angewinkelt und den Fuß unter ihre Pobacke geschoben. Das rechte war ebenfalls angewinkelt, aber hier stand sie mit dem Fuß auf dem Untergrund. Der rechte Arm lag lässig auf dem rechten Knie, während sich mein Retter mit dem linken am Boden abstützte. Ich sah auch die Flügel, deren abgerundete Spitzen über die beiden Schultern hinwegragten.
Ich wurde nicht angesprochen. Man gab mir auch kein Zeichen, näher zu kommen. Stolz und regungslos blieb mein Retter auf seinem Platz sitzen. Obwohl er nicht einen Finger bewegte, um mich zu locken, schritt ich ihm entgegen.
Der Weg fiel mir nicht leicht. Ich hatte den Eindruck, Blei an den Füßen zu haben, und so mancher Schauer rann vom Hals her über meinen Nacken hinweg.
Schritt für Schritt verkürzte sich die Distanz zwischen uns. Der Unterschied zwischen Gesicht und dem Körper trat jetzt deutlicher hervor, doch ich wollte noch näher heran, um diese Fremde besser sehen zu können, deren Haltung auf mich schon einen mehr als selbstsicheren, fast schon arroganten Eindruck machte.
Ungefähr eine Körperlänge von diesem Steinhaufen entfernt hielt ich an.
Ich wollte nicht zu nahe an sie herangehen. Für ein Gespräch war diese Entfernung genau richtig.
»Ich bin da«, sagte ich nur.
Der Person nickte.
»Danke für die Rettung.«
Erneut sah ich ein Nicken, aber es folgte auch eine Antwort. »Jetzt bist du mir etwas schuldig.«
Ich hörte den Satz und fand ihn nicht mal zu überraschend. Umsonst tat niemand etwas, selbst ein Engel nicht, falls er überhaupt einer war. Mich beschäftigte mehr die Stimme, da ich nicht herausgehört hatte, ob sie wirklich einer Frau gehörte.
Diese Geschlechtsneutralität war eigentlich typisch für die Engel, und dazu passte diese Stimme.
»Das weiß ich. Du hast mein Leben gerettet. Ich würde gern wissen, was du von mir willst und was ich dir für meine Rettung schuldig bin. Ich kann mir gut vorstellen, dass du dir darüber bereits Gedanken gemacht hast. Ich hätte es zu mindest getan.«
»Komm näher.«
Da ich hier nicht in der Position war, Befehle zu geben, kam ich der Aufforderung nach. Allerdings ging ich nur zwei kleine Schritte nach vorn, denn da stieß ich gegen den
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