1528 - Im Schlund der Bestie
schnell erreicht.
Sofort fing ich mit der Kletterei an. Ich hoffte, es beim ersten Anlauf zu schaffen. Was mich an der Oberfläche erwartete, wusste ich nicht. Nur nicht eine Leiche finden. Keine tote Stefanie Kirchner, darum betete ich.
Ich krallte mich fest. Verdammt, die Erde gab nach, aber meine Finger waren wie Haken, und ich dachte nicht daran, aufzugeben.
Ich packte es, weil ich auch meine Knie in die weiche Erde drückte und so mehr Sicherheit bekam. Dann war ich oben. Ich schaute über den Hang hinweg. Ich hatte nicht vergessen, wo ich mich befand, und sah die Kapelle vor mir. Ich stemmte mich weiter hoch, rutschte auf dem Bauch über den Rand hinweg - und vermisste Stefanie Kirchner.
Das traf mich im ersten Moment hart. Es war eine schwere Enttäuschung, aber ich sah sie weder an der offenen Kirchentür stehen noch irgendwo sonst.
War sie überhaupt noch auf dem Gelände, oder hatte es dieser Dämon geschafft, sie in seine Gewalt zu bekommen?
Mir fielen wieder die schweren Kreuze und Grabsteine auf. Einige standen schief im zerwühlten Boden. Andere waren umgekippt, und ich war froh darüber, von keinem dieser Steine getroffen worden zu sein.
Die bleichen Hinterlassenschaften auf der dunklen Friedhofserde waren neu. Knochen, die lange in der Tiefe gelegen hatten.
Ich kroch noch ein Stück vor. Erst dann wollte ich mich aufrichten und richtig nach meiner Begleiterin Ausschau halten. Vielleicht hatte sie auch die Chance genutzt, die Flucht zu ergreifen, um irgendwo ein Versteck zu finden. Das wäre nicht schlecht gewesen.
Bei diesem Gedanken erhob ich mich. Nichts lief normal. Auf dem weichen Boden sackte ich wieder weg, aber ich riss mich zusammen, stolperte wieder und erreichte schließlich einen halb umgekippten Grabstein, auf dem ich mich abstützen konnte.
Die Erde vibrierte nicht mehr, der Grabstein sackte auch nicht weg, und ich hatte von hier aus einen recht guten Überblick.
Nur im Rücken hatte ich keine Augen.
Genau das rächte sich. Ich hörte die Gefahr. Es war ein Flattern oder Rauschen in meinem Rücken.
Der Schlag mächtiger Schwingen, und sofort wurde mir klar, wer mich da angreifen wollte.
Neben dem Grabstein stehend fuhr ich herum.
Nur halb, denn etwas traf mich seitlich am Kopf. Es war, als hätte man mir das Licht ausgeknipst, wobei noch letzte Funken entstanden, die wie Sterne aufsprühten und Sekunden später von einer tiefen Dunkelheit verschluckt wurden.
Dass ich mich beim Fallen drehte, merkte ich nicht mehr. Ich hörte auch nicht das laute, gallige Lachen.
Auf dem Rücken blieb ich liegen und nahm gar nichts mehr wahr…
***
Plötzlich bewegte sich der Untergrund des Friedhofs. Er war zu einem Meer geworden, dessen Wellen Täler und Hügel bildeten und keinen Halt mehr boten.
Stefanie Kirchner wusste, dass sie nun schnell sein musste, sehr schnell sogar. Sie durfte keine Sekunde länger zögern, wenn sie nicht von der Erde verschlungen werden wollte.
Der Trichter neben der Autobahn stand ihr noch deutlich vor Augen, und es gab für sie nur eine Rettung: So schnell wie es ging, rannte sie auf die kleine Kapelle zu.
Sie schaute dabei auch nicht zurück. Sie dachte nicht mehr an John Sinclair, in Situationen wie dieser war sich jeder selbst der Nächste. Es ging hier ums nackte Leben. Sie glaubte, von ihrem eigenen keuchenden Atem angetrieben zu werden. Der weiche Boden bot ihr nur wenig Trittsicherheit. Sie musste Grabsteinen ausweichen, aber die offene Tür der Kapelle war bald erreicht, und sie warf sich förmlich in das düstere Gotteshaus hinein, wo sie mit ihren lehmigen Sohlen ausrutschte und bis gegen die letzte Bankreihe fiel und dabei hart auf eine Sitzfläche prallte.
Ich habe es geschafft!, war ihr erster Gedanke, auch wenn sie keuchend auf der harten Holzbänk lag und dabei Schmerzen in ihrem Leib spürte.
Die Polizistin wusste auch, dass sie sich nicht lange ausruhen konnte.
Sie richtete sich auf. An ihre Schmerzen dachte sie nicht mehr. Das Wissen um die tödliche Gefahr hatte ihren Adrenalinspiegel hochschnellen lassen. Sie war angespannt wie bei einem lebensgefährlichen Einsatz.
Sie drehte sich um.
Durch die offene Tür schaute sie auf das Gräberfeld. Nichts war mehr auf dem Friedhof wie sonst. Aufgewühlte Erde, halb umgekippte Grabsteine, schief stehende Kreuze, und auf dem dunklen Boden sah sie überall etwas hell schimmern, was sie bei ihrer Ankunft nicht gesehen hatte.
»Knochen«, flüsterte sie. »Verdammt noch mal, das sind die
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