1537 - Der Schlafwandler
zurückzugehen. Sie blieb auf dem eingeschlagenen Weg, und ihr Arm rutschte auch nicht aus dem Griff ihres Begleiters.
Alles war anders geworden. Ihr Leben, das sie sonst geführt hatte, lag weit zurück. Sie wollte sich nicht daran erinnern und einfach hineinschreiten in das echte Glück, von dem ihr Karel so intensiv erzählt hatte. Bei ihr war die ärztliche Kunst am Ende gewesen, man hatte sie aufgegeben. Aber Karel hatte ihr Mut gemacht.
»Mit dem Tod wirst du in das neue Leben eintreten«, hatte er gesagt.
Und genau das lag jetzt vor ihr.
Beide blieben stehen, als der Boden unter ihnen weicher geworden war und das Wasser fast ihre Fußspitzen berührte. Es war so still um sie herum. Die Welt schien eingefroren zu sein. Kein Geräusch, auch kein leises Plätschern.
Karel schob den Arm aus seiner Beuge weg. Seine Hand streichelte die Schulter der Frau, und Deborah hörte die leise Frage: »Bist du bereit?«
»Ja, das bin ich.«
»Wunderbar. Und für dich gibt es kein Zurück mehr?«
»Nein.«
»Das wollte ich hören. Dann tu dir selbst den Gefallen und gehe den Weg ins neue Leben.«
»Und du?«
»Ich bleibe hier. Meine Begleitung endet hier. Ich habe dich lange genug unterstützt. Was nun folgt, das geht nur dich allein etwas an, aber ich kann dir versprechen, dass wir uns wiedersehen. Irgendwann einmal, denn nichts geht verloren.«
»Ich hoffe es.«
»Es ist so.«
Deborah Crane senkte den Blick und schaute auf das Wasser. Es war noch immer der glatte Spiegel, in dem sie sich allerdings selbst nicht sah. Sie spürte auch den Drang, in den kleinen See zu gehen, und sie störte sich nicht an der Kälte, die sie erfassen würde, denn das Wasser war alles andere als warm.
Und so setzte sie den ersten Schritt. Eigentlich hatte sie noch etwas sagen wollen, aber plötzlich saß ihre Kehle zu. Sie brachte kein Wort mehr hervor und hörte nur das leise Plätschern, als sie in das Wasser stieg. Kalt war es!
Deborah glaubte, in eine Eisschale getreten zu sein. Den leisen Schrei unterdrückte sie nur mit Mühe, und für einen Moment hatte sie das Gefühl, nicht mehr weitergehen zu können.
Aber sie musste.
Da war die unsichtbare Hand in ihrem Rücken, die sie weiterschob und so schritt sie hinein in den See, der auf sie gewartet zu haben schien. Er war tief, das wusste Deborah, doch am Ufer sah es anders aus, da war er ein flaches Gewässer. Wer ihn nicht kannte, der war überrascht, wenn er plötzlich absackte.
Die Kälte biss in ihren Beine. Sie stieg auch höher, je weiter sie ging.
Bald schwappte das Wasser um ihre Hüften, und Deborah hob die Arme an. Sie schaute nach vorn zum anderen Ufer hin. Ihr Blickwinkel hatte sich verändert, und jetzt kam ihr die Oberfläche noch größer vor, als wäre das andere Ufer so weit entfernt, dass sie es niemals erreichen konnte.
Sie schritt weiter.
Der Widerstand vergrößerte sich, was sie kaum merkte, denn manchmal glaubte sie zu schweben, und sie dachte daran, dass auch ihr Mentor so gegangen war.
Einmal legte sie den Kopf zurück und schaute hoch zum Nachthimmel.
Der Mond schien direkt über ihr zu stehen, als wollte er sie genau beobachten und ihr den richtigen Weg zum Ziel weisen.
Das alles erlebte sie sehr intensiv, viel deutlicher als sonst, und sie spürte plötzlich die Wärme, die in ihr hochstieg. Es mochte daran liegen, dass ihr Herz schneller schlug, als wollte es sie davor warnen, noch weiter zu gehen.
Aber sie hörte nicht auf diese Warnung, denn eine andere Stimme durchdrang ihre Erinnerung. Es war die ihres Mentors, der sie darauf vorbereitet hatte, den Weg zu beschreiten. Er hatte von einem großen und nie endenden Glück gesprochen, das sie erleben würde, und darauf setzte sie auch in diesen Augenblicken.
Es war schon jetzt ihre eigene Welt. Die Tiefe zerrte an ihren Füßen. Der Grund war schlammig geworden. Aber er wollte sie nicht festhalten, und so schritt sie weiter der Seemitte entgegen und damit auch der Tiefe, die sie verschlingen würde.
Um ihre Lippen spielte ein Lächeln. Trotz der Kälte lag eine dünne Schweißschicht auf ihrer Stirn. Sie spürte auch den Druck hinter ihren Augen und hatte das Gefühl, dass etwas ihren Brustkasten und ihr Herz zusammenpressen wollte.
Noch einmal drehte sie ihren Kopf.
Karel stand am Ufer und beobachtete alles. Er hatte sich nicht um einen Zentimeter vom Fleck weg bewegt. Er schaute in ihre Richtung. Deborah hatte gedacht, dass er die Hand heben und ihr zum Abschied noch einmal zuwinken
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