1539 - In der Eastside
der nicht überwacht wird", schrie sie zurück. „Mit anderen Worten: Selbst die Kartanin glauben nicht, daß jemand so verrückt sein könnte, es auf diese Weise zu versuchen."
„Da könntest du recht haben."
Dennoch kamen sie halbwegs trocken auf die andere Seite, fanden einen weiteren Tunnel und standen wenig später vor einer metallenen Tür.
Im bewohnten Teil der Stadt waren Türen sehr selten zu finden, denn die Kartanin mochten sich von ihren dicken, weichen, schallschluckenden Portieren nicht trennen. Aber diese Tür erfüllte offenbar einen ganz anderen Zweck, als ungebetene Gäste auszusperren: Auch die Kartanin sahen es nicht gerne, wenn ihnen die stinkenden Abwässer der Stadt plötzlich in die guten Stuben schwappten.
Zwar war heutzutage nicht mehr mit derartigen Überschwemmungen zu rechnen, aber die Tür existierte nun einmal, und niemand hatte einen Anlaß gesehen, sie zu demontieren. „Bei den Kartanin gibt es viele ungeschriebene Gesetze", erklärte Dao-Lin-H’ay. „Eines davon betrifft solche Türen. Niemand mißbraucht ihre Existenz zum Zweck eines Einbruchs. Die Privatsphäre ist den Kartanin heilig - sowohl die der Familie, als auch die der Individuen."
Aber während sie das sagte, öffnete sie ohne jede erkennbare Mühe das einfache Schloß.
Sie fügte mit leisem Spott hinzu: „Mir scheint, ich habe viel zu lange unter euch Galaktikern gelebt. Ich habe nicht einmal mehr Gewissensbisse dabei."
*
Ein schier unübersehbares Gewirr von schmutzigen Gängen, halbzerfallenen Treppen und staubigen Rampen lag hinter ihnen, dazu eine scheinbar endlose Kette von Abstellräumen, in denen die Familie H’ar all das aufgestapelt hatte, was man weder wegwerfen, noch in Sichtweite behalten wollte: Ausrangiertes Mobiliar, zerschlissene Teppiche, Gemälde und Büsten von Helden und Heldinnen, die aus der Mode gekommen waren. Truhen, bis zum Rand mit altem Schmuck und Tand gefüllt.
Unbrauchbare Waffen, rituelle Roben, die nicht mehr gebraucht wurden, Nippes und vieles andere mehr. Sogar ein maahkscher Kampfanzug stand herum, von allerlei Kisten und Kästen umgeben, daneben eine seltsame, grünschuppige Rüstung, deren Träger mit Sicherheit keine humanoide Gestalt gehabt hatte. „Kriegsbeute", stellte Dao-Lin-H’ay lakonisch fest.
Die ungeschriebenen Gesetze der Kartanin schienen sich allgemeiner Beachtung zu erfreuen.
Es war leicht zu erkennen, daß diese Kammern weder überwacht, noch kontrolliert wurden. Auf jedem anderen Planeten hätten sich unter diesen Umständen längst Diebe eingefunden, die all das Zeug weggeschleppt und verkauft hätten. „Das wäre eine gute Einnahmequelle", bestätigte Dao-Lin-H’ay. „Die Sache hätte allerdings auch einen Haken.
All das, was hier herumliegt, gehört zum Familieneigentum. Ein Dieb würde in diesem Fall also nicht etwa eine einzelne Person bestehlen. Der Diebstahl fremden Familieneigentums wird aber nicht nur dem Dieb, sondern auch dessen Familie angelastet. Im Klartext würde das bedeuten, daß die Familie dieses Diebes ruiniert wäre.
Der Dieb müßte sich vor dem Familiengericht verantworten, und die Familie würde den Dieb verstoßen. Etwas Schlimmeres kann einem Kartanin kaum widerfahren."
„Für einen Nicht-Kartanin wäre das kein Hindernis."
„Da irrst du dich. Wenn keine Familie für die Taten eines Diebes haften kann, dann macht man sein Volk für seine Vergehen verantwortlich. Man würde alle Handelsbeziehungen abbrechen und fortan so tun, als würde dieses Volk gar nicht existieren."
„Dann solltet ihr euren Besuchern dieses Gesetz erklären, bevor sie aus purer Unwissenheit auf dumme Gedanken kommen."
„Wozu? Normalerweise führt man seine Gäste nicht durch solche Rumpelkammern."
„Was würde passieren, wenn man uns hier erwischen sollte?" Dem Terraner war etwas mulmig zumute, als er an die möglichen Konsequenzen dachte. Wenn die Kartanin auf die Idee kamen, alle Beziehungen zu den Terranern abzubrechen, weil sie einen gewissen Ronald Tekener in einer dieser Abstellkammern erwischt hatten ... Er zog es vor, sich die Folgen eines solchen Zwischenfalls lieber nicht genauer auszumalen.
Gleichzeitig ärgerte er sich über Dao-Lin-H’ay.
Warum hatte sie ihn nicht schon vorher über diese Risiken informiert? „Wir sind keine Diebe", sagte die Kartanin gelassen. „Aber wir betätigen uns als Einbrecher!"
„Das ist in diesem Fall unerheblich. Diese Räume sind unbewohnt. Wir stören niemanden und nehmen der
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