1539 - In der Eastside
daß er damit ein Sakrileg begehen könnte.
Er atmete auf, als er eine leichte Berührung an der Schulter spürte: Dao-Lin-H’ay war zurückgekehrt. „Eine Lampe für jede der großen Familien", sagte sie und deutete nach oben.
Sie sprach sehr leise, aber immerhin laut genug, daß die herumstehenden Kartanin sie hören und verstehen konnten. Sie drehten sich um, teils neugierig, teils empört.
Dao-Lin-H’ay ließ sich dadurch nicht beeindrucken. „Du erinnerst dich sicher daran, was Tschu-Man-H’ar uns sagte", fuhr sie fort. „Hier hat vorher eine Anhörung stattgefunden. Irgendeine Familiensache. Wenn der Rat der Hohen Frauen tagt, brennen nur fünf dieser Lampen."
Und so - mit diesen fünf auf das Podium gerichteten Lichtkegeln - kannte er diese Halle bereits.
Ronald Tekener fragte sich amüsiert, wie Dao-Lin-H’ay sich wohl in der Rolle der Fremdenführerin fühlen mochte. „Übrigens - all diese Stühle bestehen aus Holz", fuhr sie fort. „Das ist ein sehr wertvolles Material auf einem Planeten wie diesem, denn hier gibt es nur sehr wenige Bäume."
Das war ihm noch gar nicht aufgefallen. Jetzt, da sie es sagte, wurde ihm plötzlich bewußt, daß er auf Kartan noch nie einen Wald gesehen hatte - nur Felsen, Eis, den Raumhafen und die Stadt Tozinkartan.
Unten auf dem Podest ging jemand umher. Einige Türen wurden geöffnet. „Sie werden die Lichter gleich ausschalten", sagte Dao-Lin-H’ay.
Es war, als hätte irgend jemand nur auf das Stichwort der ehemaligen Voica gewartet: Die roten Lampen erloschen bis auf jene fünf, die das Podest im Mittelpunkt der Halle beleuchteten. Die plötzliche Finsternis schien die Besucher zu ernüchtern. Die strebten unter leisem Gemurmel den Ausgängen zu.
Tekener und die Kartanin nahmen den entgegengesetzten Weg.
Die Hohen Frauen erschienen und nahmen auf dem Podest Platz. Zwei von ihnen waren männlichen Geschlechts. Dennoch trugen sie die traditionellen Roben samt allem, was dazugehörte.
Niemand von den Kartanin schien das als lächerlich zu empfinden. Dao-Lin-H’ay einmal ausgenommen. „Wir sind hier zusammengekommen, um den Bericht des Kommandanten Han-Shui-P’on zu hören", begann Mei-Mei-H’ar salbungsvoll, aber was sie danach noch alles sagte, das ging an Tekeners Ohren vorbei, denn es war ohnehin nur Gerede.
Zeitverschwendung! dachte er, und plötzlich war wieder diese Ungeduld in ihm, stärker noch als zuvor.
Han-Shui-P’on trat vor das Podest und begann zu reden. Er wiederholte fast wortwörtlich all das, was er auch vorher schon in Mei-Mei-H’ars Büro berichtet hatte.
Ronald Tekener dachte an das geheimnisvolle Halsband. Es kribbelte ihn in den Fingern.
Er verspürte den dringenden Wunsch, aufzuspringen, diesen Kartanin an der Gurgel zu packen und ihn durchzuschütteln, bis Han-Shui-P’on bereit war, sein Wissen preiszugeben.
Er ballte bereits die Fäuste, spannte sich an - und dann spürte er Dao-Lin-H’ays Hand auf seiner Schulter, den leichten, warnenden Druck ihrer Krallenspitzen.
Was geschieht mit mir? fragte er sich erschrocken. Was ist bloß mit mir los?
Und dann erkannte er, daß es an der Umgebung lag, in der er sich befand.
Irgendwie erinnerte ihn die Szenerie in der Halle des Rates an eine andere Halle an einem ganz anderen Ort.
Dort hatte er die größte Dummheit seines Lebens begangen und einen Nakken erschossen, der ihnen viele wichtige Antworten hätte geben können, wenn er am Leben geblieben wäre.
Oder auch nicht, dachte Tekener bitter. Was für Antworten kann man schon von einem Nakken erwarten?
War es wirklich dieser Nakk namens Clistor gewesen, der die Zellaktivatoren gestohlen und deren Träger damit auf grausame Weise zum Tode verurteilt hatte?
Diese Frage beschäftigte den Terraner immer noch. Er wurde das unangenehme Gefühl nicht los, daß er niemals eine befriedigende Antwort erhalten würde.
Han-Shui-P’on verstummte plötzlich mitten im Wort. In der dadurch entstandenen Stille vernahm Tekener ein für menschliche Ohren kaum wahrnehmbares Summen. „Schon wieder eine Störung?" fragte Mei-Mei-H’ar fauchend. „Wer ist es diesmal?"
„Eine Nachricht für Dao-Lin-H’ay", sagte eine Stimme. „Ein gewisser Lento-Suhn bittet um sofortigen Rückruf."
Die Hohen Frauen blickten auf Dao-Lin-H’ay herab - buchstäblich, denn sie saßen oben auf dem Podest. „Nun, ich denke, ich habe ohnehin genug gehört", bemerkte die ehemalige Voica gelassen. „Ich habe nur noch eine einzige Frage an
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