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1539 - In der Eastside

Titel: 1539 - In der Eastside Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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den Augen. Als Tschu-Man-H’ar sie ansprach, blinzelte sie halbgeblendet zu ihr hinauf. „Arbeit für dich", sagte Tschu-Man-H’ar und stellte das Kästchen mit dem Halsband auf den Tisch.
    Die Kartanin mit dem Schirm über den Augen legte ein winziges Werkzeug beiseite und öffnete das Kästchen. „Hat es sich gelohnt?" fragte sie.
    Ihre Stimme klang tief und heiser. „Das sollst du herausfinden!" erwiderte Tschu-Man-H’ar ziemlich grob. „Wie lange wird es dauern?"
    Die fremde Kartanin strich mit den Fingerspitzen über das Halsband - eine fast zärtlich wirkende Berührung. „Du wirst dich bis zum Abend gedulden müssen", sagte sie barsch. „Laß mich allein. Sorge dafür, daß ich nicht gestört werde."
    Tschu-Man-H’ar schien eine weitaus höflichere Antwort erwartet zu haben. Sie versteifte sich. „Und jetzt sieh zu, daß du mir aus den Augen kommst!" fauchte die Kartanin, die das Halsband an sich genommen hatte. „Ich habe dich schon beim letztenmal gewarnt, Tschu-Man-H’ar. Dein Tonfall gefallt mir nicht, Verschwinde!"
    Tschu-Man-H’ar zeigte die Krallen. „Du solltest besser selbst etwas höflicher sein!" fuhr sie auf. „Und vor allem solltest du sparsamer mit diesem Zeug dort umgehen. Es zerfrißt dein Gehirn!"
    Sie deutete auf eine kleine Schale, aus der ein dünner Rauchfaden aufstieg. „Bis jetzt hat dir mein zerfressenes Gehirn gute Dienste erwiesen!" versetzte die fremde Kartanin scharf. „Geh!"
    Tschu-Man-H’ar riß sich zusammen. Hochaufgerichtet verließ sie das seltsame Gewölbe. „Und was jetzt?" fragte Tekener. „Wollen wir wirklich bis zum Abend warten?"
    „Nein", erwiderte Dao-Lin-H’ay. „Aber zuerst müssen wir in die Halle des Rates. Nachdem ich uns mit solchem Nachdruck angemeldet habe, müssen wir uns wohl oder übel dort blicken lassen."
    „Wozu? Wir kennen Han-Shui-P’ons Bericht bereits. Warum sollen wir unsere Zeit verschwenden und uns das Ganze noch mal anhören?"
    „Weil es dumm von uns wäre, die Hohen Frauen mißtrauisch zu machen. Sie sind es sowieso schon. Sie glauben längst nicht mehr daran, daß ich nur wegen der Sashoy hier bin. Außerdem kommen wir von dort aus noch am ehesten an das Halsband heran."
     
    *
     
    Die Halle des Rates der Hohen Frauen war ein Raum, der empfindliche Gemüter das Gruseln lehren konnte: Riesengroß, dem Innern eines Zeltes nachempfunden, dunkel und kalt.
    Heute war es heller als sonst, denn man hatte die Festbeleuchtung eingeschaltet - Hunderte von großen Lampen kreisten langsam unter dem honen, spitzen Dach. Sie verstrahlten dunkelrotes Licht und schufen eine unheimliche, drohende Atmosphäre.
    So wirkte es jedenfalls auf den Terraner.
    Für die Kartanin, deren Augen viel empfindlicher waren, schien es dagegen ein ausgesprochen feierlicher Anblick zu sein. Hunderte von Katzenwesen standen zwischen den terrassenförmig ansteigenden Sitzreihen und starrten wie gebannt nach oben.
    Auch Ronald Tekener blieb stehen - notgedrungen, denn einige der andächtig ausharrenden Kartanin versperrten ihm den Weg. Sie wandten ihm den Rücken zu und nahmen seine Anwesenheit offenbar gar nicht zur Kenntnis.
    Dao-Lin-H’ays Schnurrhaare kitzelten ihn am Hals. „Ich muß etwas vorbereiten. Rühre dich nicht von der Stelle! Warte, bis ich zurückkomme!"
    Ihre Stimme war so leise, daß er die Worte kaum verstehen konnte.
    Einige Minuten vergingen. Allmählich gewöhnten seine Augen sich an das seltsame Licht, aber je mehr er erkennen konnte, desto fremdartiger erschien ihm das, was er sah.
    Die Treppen und der Boden zwischen den Sitzreihen waren mit schwarzen Teppichen belegt - das erweckte den Eindruck, als stünde man über einem finsteren, bodenlosen Abgrund. Die Stühle, aus denen die Sitzreihen bestanden, waren ebenfalls schwarz. Ihre hohen Lehnen liefen nach oben hin spitz zu, so daß man auf den ersten Blick meinen konnte, auf Tausende von regungslos am Boden knienden, in Kapuzenmäntel gehüllte Kartanin herabzublicken.
    Die sich langsam unter der Decke drehenden Lampen gossen blutrotes Licht über diese geisterhafte Versammlung. Die im Kreis wandernden Schatten erzeugten einen Effekt scheinbarer Bewegung, als würden die angeblich dort knienden Kartanin ständig seitwärts sinken.
    Es war ein schwindelerregender Anblick.
    Hinzu kam, daß Tekener nicht wußte, wie er sich verhalten sollte. Alle anwesenden Kartanin standen so still, als hätte man sie festgenagelt. Er wagte es nicht einmal, sich hinzusetzen, weil er befürchtet,

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