1540 - Das Drachenriff
sich dem Spiegel zu.
Mit der Leiche davor war nichts geschehen. Sie war auch nicht zur Seite gerückt worden, niemand hatte sich an ihr zu schaffen gemacht. Es war alles normal, und trotzdem stieg in ihm ein ungutes Gefühl hoch, das er nicht so leicht unterdrücken konnte. Hier war etwas geschehen, das nicht in die Normalität hineinpasste. Genau das ärgerte ihn.
Tanner schaute in den Spiegel. Er sah sich selbst, betrachtete sich von Kopf bis Fuß. Das war alles okay und…
Nein, doch nicht!
Er hatte etwas gesehen, das ihm nicht in den Kram passte. Die Spiegelfläche zeigte nicht mehr die Glätte, wie es hätte sein müssen. Sie sah aus, als wäre sie von einem Schatten überzogen worden, und sie hatte auch ihre Farbe verändert. Wenn ihn nicht alles täuschte, war der Spiegel grauer geworden.
Und Purdy Prentiss war weg!
Hier passte einiges nicht zusammen. Tanner hatte das Gefühl, in etwas hineingeraten zu sein, das ihm über den Kopf zu wachsen begann.
Er konnte nichts Konkretes sagen. Es war alles anders geworden und trotzdem gleich geblieben. Der Instinkt sagte dem erfahrenen Beamten, dass er hier an seine Grenzen gestoßen war.
Möglicherweise gab es eine völlig normale Erklärung für das Verschwinden der Staatsanwältin. Vielleicht aber auch nicht, und da musste Tanner passen, was er verdammt ungern tat.
Er glaubte vielmehr daran, dass dieses Zimmer ein Geheimnis barg, das Mrs Purdy Prentiss möglicherweise entdeckt hatte und das ihr zum Verhängnis geworden war.
Den anderen Kollegen wollte er nichts darüber sagen. Sie sollten so weitermachen wie immer. Da musste zunächst mal der Tote abtransportiert werden. Die Untersuchungen hier waren erledigt.
Tanner ging wieder zurück zu seinen Leuten.
Die Männer von der Spurensicherung wussten, was sie zu tun hatten.
Der Tote musste eingesargt werden.
Die Schilder mit den Zahlen wurden eingesammelt, und schließlich blieb nur noch eine Blutlache auf dem wertvollen Teppich zurück.
Tanner begleitete seine Männer bis zur Tür.
Dort wunderte man sich, dass er nicht mitkommen wollte.
»Ich muss noch etwas nachdenken. Dafür brauche ich meine Ruhe. Ich komme später nach.«
»Okay, Boss.«
Es wurden keine Fragen gestellt. Die Männer waren an Alleingänge ihres Chefs gewohnt, und letztendlich war immer etwas dabei herausgekommen. So würde es sicher auch hier sein.
Tanner ging zurück ins Mordzimmer. Vor dem Spiegel hielt er an. Er hütete sich davor, in die Blutlache zu treten, aber sein Blick ließ den Spiegel nicht los.
Und wieder musste er sich eingestehen, dass der Spiegel seine Normalität oder seine Unschuld verloren hatte. Er ging davon aus, dass hier etwas geschehen war, das nicht mit normalen Maßstäben zu messen war.
»Was mache ich?«
Bisher hatte Tanner den Spiegel noch nicht berührt. Das änderte sich nun.
Die Leiche lag ihm nicht mehr im Weg. Er streckte die Hand aus, um die Fläche zu berühren.
Da gab es nichts Unnormales. Oder doch?
Tanner zuckte leicht zusammen, weil er trotz allem den Eindruck hatte, dass die Fläche nicht mehr die Härte zeigte, die eigentlich hätte vorhanden sein müssen.
Aber war sie wirklich weicher geworden?
Er sah sich in der Spiegelfläche, aber er sah sich nicht mehr so klar. Und als er sich noch mehr konzentrierte, da hatte er den Eindruck, als würde sich auf oder tief in der Spiegelfläche etwas bewegen, das mit seinem Spiegelbild nicht das Geringste zu tun hatte.
Sein Herz schlug schneller. Tanner gab zu, dass er vor einem Phänomen stand. Er war ein Mann der Praxis, der sich an das hielt, was er mit den eigenen Augen sah. Aber er wusste durch seihen Freund John Sinclair, dass es noch eine andere Seite gab. Eine Welt in der Dimension jenseits der sichtbaren.
Oft genug hatten John und Suko Fälle aufgeklärt, die eigentlich ihn betrafen. Fast jedes Mal hatte sich dann herausgestellt, dass sie ganz anders verliefen und man mit normalen Methoden nicht weiterkam.
War das hier auch so?
Noch einmal strich er über den Spiegel hinweg und fand ihn nicht so glatt, wie er hätte sein müssen. Der Begriff körnig kam ihm in den Sinn, und das war bei seiner ersten Berührung nicht so gewesen.
Von Purdy Prentiss war auch weiterhin nichts zu sehen. Es gab auch keine Nachricht, die sie hinterlassen hatte. Sie war einfach wie vom Erdboden verschluckt, wobei er mehr an den Spiegel glaubte.
»Das ist alles Mist!«, flüsterte er vor sich hin, bevor er sein Handy hervorholte und eine bestimmte Nummer
Weitere Kostenlose Bücher