1540 - Das Drachenriff
ausschließen.
Gemeinsam betraten wir das Zimmer, und mir fiel sofort die Blutlache auf, die zum großen Teil bereits im Teppich versickert war.
Aber der Geruch war noch vorhanden, und ich wusste, dass ich mich nie an ihn würde gewöhnen können.
»Sieht alles normal aus«, kommentierte ich.
»Fast, John. Bis auf den Spiegel.«
Da ich den Kopf gesenkt hatte, musste ich ihn jetzt anheben, um ihn anschauen zu können.
Für mich war stets der erste Augenblick entscheidend, und so schaute ich auf die spiegelnde Fläche und sah erst mal nichts, was Tanners Verdacht bestärkt hätte.
Der Spiegel gab mich wieder.
Ich nickte mir selbst zu, was Tanner nicht verborgen blieb, und er fragte:
»Bist du zufrieden?«
»Bis jetzt noch. Ich sehe nichts, was mich hätte misstrauisch machen können.«
»Aber ich.«
»Und was?«
»Ich habe Schatten in der Fläche gesehen, aber die sind jetzt verschwunden, und ich gehe auch davon aus, dass der Spiegel nicht mehr so klar ist wie normal.«
Ich hob die Schultern.
»Klar, John, dass dir nichts auffallen kann. Du kennst ihn ja auch nur in diesem Zustand. Aber wenn du dich näher mit ihm beschäftigst und dir seine Fläche aus der Nähe anschaust, wirst du stutzig werden. So klar, wie es scheint, ist er nicht. Er kommt mir körnig vor, und dann habe ich mich auch über seine Konsistenz gewundert. Sie ist ungewöhnlich. Jedenfalls nicht so hart und glatt, wie bei anderen Spiegeln.«
»Aber du hast nicht hineingreifen können.«
»Das ist wohl wahr.«
Ich schaute in Tanners Gesicht. Es hatte seinen bärbeißigen Ausdruck verloren. Eine gewisse Spannung sah ich darin, und in seinen Augen lag ein Ausdruck der Sorge.
Wenn Purdy Prentiss tatsächlich durch den Spiegel verschwunden oder geholt worden war, dann war seine Sorge schon berechtigt.
»Okay, dann werde ich ihn mir mal aus der Nähe anschauen.«
»Mit oder ohne deinem Kreuz?«
»Warten wir mal ab.«
Ich musste der Blutlache ausweichen, um dicht an den Spiegel herantreten zu können, der ein wahres Prachtstück war.
Doch das interessierte mich nicht im Moment. Wichtiger war, dass ich…
Nein, nur das nicht.
Ich ging keinen Schritt mehr weiter, denn es geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte…
***
Ein Schritt nur, und alles war anders um Purdy Prentiss herum.
Gegensätzlicher konnten Welten gar nicht sein, und sie blieb sofort stehen und schüttelte den Kopf.
Um sie herum toste es.
Wasser gischtete in die Höhe, Wellen schlugen gegen eine Mauer aus Steinen. Ein blauer Himmel ohne Wolken.
Purdy wischte über ihre Augen, weil sie nicht fassen konnte, was hier ablief und was wirklich kein Traum war.
Sie wollte automatisch einen Schritt zurückgehen, was sie auch schaffte, aber sie hatte Pech. Es gab das Tor nicht mehr, durch das sie geschritten war. Sie drehte sich um und schaute auf das Wasser, das sie auch von dieser Seite umgab.
Ich stehe auf einer Insel!, schoss es ihr durch den Kopf. Auf einer Insel mitten im Meer! Aber sie wusste nicht, wo dieses Meer lag. Sie hörte es, sie sah die Wellen, und erst nach einer Weile kümmerte sie sich um die nähere Umgebung.
Drei, vier gezielte Blicke reichten aus, um sie erkennen zu lassen, dass sie auf einer winzigen Insel stand. Ein felsiges Eiland, von einem graugrünen Wasser umtost, aber zugleich so etwas wie eine Festung, denn als sie sich umdrehte, nahm sie den Turm wahr, der sich in der Mitte des Eilands in die Höhe reckte.
Es konnte gut und gern ein Leuchtturm sein. Er war unten am Boden recht breit und verjüngte sich zu seinem Ende hin. Licht sah sie allerdings nicht. Es wäre auch nicht nötig gewesen, denn es war heller Tag.
Purdy Prentiss war keine Frau, die so leicht geschockt werden konnte.
Sie versuchte stets mit jeder Situation zurechtzukommen, und als sie hier stand, dachte sie automatisch an ihr erstes Leben, das sie in früherer Zeit in Atlantis geführt hatte. Da war sie eine Kämpferin und Kriegerin gewesen und war nach ihrem Tod Tausende von Jahren später in der Metropole London wiedergeboren worden, in der sie sich auch zurechtgefunden hatte und dem Job als Staatsanwältin nachging.
Seit einiger Zeit als Single, denn ihr Partner, der ebenfalls schon in Atlantis existiert hatte, war umgekommen. Seit dieser Zeit schritt sie allein durchs Leben, wobei sie nichts von ihrer Kampfeslust verloren hatte. Das musste sie tagtäglich im Job beweisen, der nicht einfach war.
Und doch gab es immer wieder die Rückführungen.
Ihr erstes Leben
Weitere Kostenlose Bücher