1548 - Orbit im Nichts
Analysemöglichkeiten zur Verfügung gestanden hatte, war größer, besser, moderner als das Gerät, mit dem er im Waringer-Building im Rahmen des UBI-ES-Projekts gearbeitet hatte. Man fragte sich, was den Mann überhaupt dazu bewegen hatte, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen. Offensichtlich war die Hyperphysik nicht nur sein Fachgebiet, sondern gleichzeitig auch sein Hobby. Warum hatte er sich nicht einfach als Privatlehrer betätigt? An Finanzmitteln hatte es ihm gewiß nicht gefehlt.
Vor der Hauptschaltkonsole hielt Myles sein Fahrzeug an. Schräg vor und über ihm erschien ein matt leuchtendes, kugelförmiges Gebilde etwa von der Größe eines Apfels. Aus dem Innern der Leuchterscheinung meldete sich eine angenehm klingende Stimme: „Willkommen, Myles Kantor. Für die Bedienung aller Systeme, die du in diesem Raum siehst, stehe ich dir zur Verfügung."
„Woher kennst du meinen Namen?" fragte Myles. „Du hast dich beim Pförtner angemeldet, und deine äußere Erscheinung ist so charakteristisch, daß man dich nicht mit einem deiner Begleiter verwechseln kann."
„Akzeptiert", sagte Myles. „Du weißt, warum ich hier bin?"
„Ich kann es nicht wissen, Myles Kantor, weil ich kein Gedankenleser bin", kam die Antwort. „Aber ich kann eine Vermutung anstellen. Njels Bohannon hat dich als den Empfänger seines Nachlasses genannt. Du bist hier, um den Nachlaß in Augenschein zu nehmen."
„Du hast recht", bestätigte Myles. „Wo möchtest du anfangen?" fragte der Servo. „Njels Bohannon hat in meinem Projektteam an UBI-ES gearbeitet", sagte Myles. „Ich nehme an, daß er sich auch hier mit UBI-ES-Problemen befaßt hat. Mich interessieren besonders solche Arbeiten und Daten, die mit der Suche nach der Superintelligenz ES in Zusammenhang stehen."
„Wenn ich dich richtig verstehe", reagierte darauf der Servo, „dann soll ich in den Speicherbereichen nach solchen Abschnitten suchen, die mit den Kennbegriffen ES oder UBI ES versehen sind."
„Das wäre ein Anfang", sagte Myles. „Bohannon hat mir seinen Nachlaß vermacht - ich nehme an in der Absicht, daß ich ihn praktischer Verwendung zuführe. Er wird es mir nicht allzu schwer gemacht haben, an die Daten heranzukommen, die ich suche."
„Ich beginne", verkündete der Servo. „Warte einen Augenblick!" bat Myles.
Er lenkte das Kantormobil herum und steuerte es durch den Gang zurück in den Schacht. Von oben fiel Licht herein. Die Geheimtür, durch die Myles eingedrungen war, stand also noch offen. Das beruhigte ihn. Er glitt in den Computerraum. „Jetzt kannst du anfangen", sagte er zum Servo.
*
Die Deckenbeleuchtung war gedämpft worden. Eine große Videofläche schwebte vor Myles Kantor in der Luft.
Träge rollten Zeichengruppen darüber hinweg. Das Lesen von Speicherinhaltsverzeichnissen gehörte nicht zu den aufregendsten Tätigkeiten im Tagesablauf des Computerexperten, aber es mußte nun einmal sein. Der Servo hatte Myles gewarnt: Der Suchbegriff UBI ES erschien Hunderte von Malen. Geduldig las Myles eine Zeile nach der anderen. Njels Bohannon hatte unter diesem Begriff nicht nur fachliche und projektbezogene Informationen gespeichert, sondern grundsätzlich alles, was ihm während seiner Arbeitsstunden im Waringer-Building an Notierenswertem vorgekommen war. Schon glaubte Myles Kantor fündig geworden zu sein, als er nämlich einen Eintrag REDUKTIONSROUTINE KOLIBRI fand. Er trug dem Servo auf, den entsprechenden Datenabschnitt zu produzieren, und war sehr enttäuscht, als er feststellen mußte, daß sich Njels Bohannon hier ein paar private Notizen über seine Bemühungen, ein weibliches Wesen zu beeindrucken, gemacht hatte. Seine Angebetete bezeichnete er mit dem Deck- bzw. Kosenamen Kolibri. Was die Bezeichnung „Reduktionsroutine" zu bedeuten hatte, das zu ermitteln blieb der Phantasie des Lesers überlassen. Da die Frau, um die es hier ging, nirgendwo mit ihrem wirklichen Namen genannt wurde, hielt es Myles für zulässig, die Aufzeichnung zur Gänze durchzulesen. Es schien, daß Njels Bohannon nach anfänglichen Erfolgen zum Schluß bei dem Wesen seiner Träume abgeblitzt war.
So war er gewesen, dachte Myles: ein Wissenschaftler erster Güte, aber ohne Beziehung zu seinen Mitmenschen, ein Einzelgänger. Sein umfangreiches Fachwissen hatte ihn überheblich gemacht, und sein ständiges Bemühen, sich als einen darzustellen, der nie unrecht hat, war dafür verantwortlich, daß er den größten Teil seines Lebens in der
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