1552 - Tolots Terror
Reaktion, das sie erkannte. Dann jedoch verwandelte sich sein Gesicht in einer Miene des Bedauerns. „Ich bleibe nicht auf Sagno Ciff", sagte er. „Es tut mir leid, Prina.
In einer Woche verlasse ich den Mond."
Sie fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. „Aber warum?" rief sie. „Ausgerechnet das größte Talent, das wir je besessen haben!"
Der Junge wirkte betroffen. Einen Moment lang fiel seine Maske, und darunter kamen Verletzlichkeit und Unsicherheit zum Vorschein.
Augenblicklich taten ihr die eigenen Worte leid. „Entschuldige, Aramus. Ich weiß, daß wir dich nicht besitzen. Niemand besitzt dich."
„Vielleicht alle Linguiden", sagte er. „Ich fühle mich jedermann verpflichtet. Und deshalb muß ich Sagno Ciff verlassen. Hier nütze ich nur ein paar hundert Leuten. Doch wenn ich das Talent besitze - so habe ich kein Recht, hierzubleiben. Nein, ich werde mich auf Lingora ausbilden lassen."
Je länger Prina ihm zuhörte, desto mehr schmolz ihre erste Enttäuschung dahin. Er hatte wahrlich das Zeug. Sie konnte ihm nicht einmal böse sein. „Hast du bereits einen Ruf erhalten?"
„Ja."
„Von wem?"
„Es ist Sigund Hajjcan."
„Nun gut. Ich sehe ein, daß dagegen nichts zu machen ist. Aber vielleicht, Aramus, kehrst du einmal nach Sagno Ciff zurück."
Der Junge erhob sich in einer fließenden Bewegung. Mit einer einzigen Handbewegung strich er ihre erneut aufkeimende Enttäuschung weg. „Sicher werde ich das. Vergiß nicht, Prina Mauenhaudi, hier steht mein Lebensstrauch."
Nachdem er gegangen war, wurde sie doch noch wütend. Sigund Hajjcan. Kein Wunder; gegen den ältesten Friedensstifter von Lingora hatten sie alle keine Chance. Ein solcher Ruf war zu mächtig. Jeder wäre ihm gefolgt. Doch nur Aramus hatte ihn erhalten, und das im Alter von gerade neun Jahren.
Sie fühlte, daß ihm eine große Zukunft bevorstand.
*
Wie oft faßte Prina in den folgenden Jahren den Entschluß, ihre ganze Arbeit auf dem Mond hinzuwerfen! Doch kein einziges Mal blieb sie länger als ein paar Stunden standhaft. Man brauchte ihre Dienste. Und irgendwann sah sie immer wieder ein, daß genau hier ihr Platz war.
Baron wuchs in rasendem Tempo.
So jedenfalls kam es ihr vor, denn bald war aus dem Baby ein Kleinkind geworden, das bereits laufen konnte und in ganzen Sätzen sprach. Die Beherrschung der Sprache war etwas, Was jedem Linguidenkind in die Wiege gelegt wurde. Es gab fast keine Ausnahmen von der Regel.
In anderer Hinsicht jedoch machte Baron ihr Sorgen. Der Junge war aggressiver, als er hätte sein sollen. Manchmal schrie er stundenlang, nur um sie zu quälen - weil er wußte, daß sie damit nicht fertig wurde. Alles, was er tat, diente nur einem Ziel. Baron Singhai wollte Macht über sie, Macht über seine Umwelt.
Dabei war es sicherlich nicht die Art von Macht, wie die übrigen Völker den Begriff verstanden. Baron hätte nie ein Diktator werden können. Er hätte nie jemandem etwas zuleide getan. Aber über das linguidische Maß gingen seine Bestrebungen weit hinaus.
Vielleicht, dachte Prina manchmal, war das Ganze ihre Schuld.
Vielleicht schlug er deswegen aus der Art, weil sie nicht genügend Zeit für ihn hatte. Womöglich spürte er, daß sie nicht seine wahre Mutter war. Bald würde sie es ihm ohnehin sagen müssen.
Baron lernte nicht, sich als Bestandteil seiner Umwelt zu sehen. Er unterschied strikt zwischen sich und allem Äußeren. Doch Prina hatte Hoffnung: Was bisher falsch gelaufen war, ließ sich auch wieder korrigieren.
Als Baron drei Jahre alt geworden war, stellte sie einen Lehrer in sein Zimmer. Damit wollte sie seine Entwicklung in die richtigen Bahnen lenken. Der Lehrer war ein kastenförmiges Gebilde, ein relativ primitiver Computer mit Bildschirm, Akustikmodul und Anschluß zum Zentralrechner von Sagno Ciff. „Setz dich", forderte sie den Kleinen auf. „Damit wirst du lernen, Baron. Stelle dem Lehrer eine Frage."
„Warum?"
Der Junge ließ deutlich merken, daß er viel lieber nach draußen wollte; zum Spielen in die Mondstadt. Dabei hatte er keine Freunde im selben Alter. Mit ihm spielte niemand, er war meist allein unterwegs. „Weil du lernen sollst, wie deine Umwelt beschaffen ist."
„Das kann ich auch selbst."
Baron fuhr durch sein zerzaustes Gesichtshaar, das noch ungepflegter war als ihre eigenen Zöpfe. Die Kleidung bestand nur aus einem schmutzigen Kittel. Ein aggressiver Blick traf kurz Prinas Gesicht, dann hatte sich Baron sofort wieder
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