156 - Auf dem roten Planeten
eines der Bücher – das »Heilige«, wie Windtänzer es zu nennen pflegte – schrieb sie eine Botschaft an ihren Mann. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie das tat. Als sie das Buch zuschlug und den Stift in eine Seitentasche steckte, zitterten ihre Hände. Den Mantel rollte sie zusammen und band ihn auf den Tornister.
Danach verließ sie das Haupthaus und lief über eine Hängebrücke zum Nachbarbaum hinüber. Dort deponierte Rosen den Tornister in einer Baumhöhle, in der Windtänzer Dinge aufbewahrte, von denen sie nichts wissen wollte und nichts wissen musste. Die Baumhöhle verschloss sie mit Geäst und Laub.
Vom Waldboden her hörte sie Stimmen. Laute und schroffe Stimmen – viel lauter und schroffer, als Stimmen in der Baumsiedlung üblicherweise klangen. So rasch Rosen konnte, kletterte sie in die Tiefe.
Als sie die starken, unteren Äste der Krone erreichte, sah sie die beiden Flugmaschinen vierzig Meter tiefer zwischen einer Beerenhecke und einem Farnfeld im Moos stehen. Nur zwei Dutzend Schritte entfernt, auf dem Rotbeerfeld zwischen vier Siedlungsbäumen, hatten sich etwa vierzig Schwestern und Brüder um acht Städter versammelt.
Einer der Fremden trug einen eng anliegenden schwarzen Anzug mit vielen Taschen und einen schwarzen Lederhelm. Er kam Rosen sehr kräftig und breit gebaut vor, und er schien das Wort zu führen. Die anderen sieben trugen ähnliche Anzüge, jedoch nicht von schwarzer, sondern von schillernder Silberfarbe. Diese Sieben trugen weder Helme noch sonst irgendwelche Kopfbedeckungen. Einer von ihnen war sehr groß und hatte kurzes Stoppelhaar von ähnlicher Färbung wie sein Anzug. Er schien eine Art zweiter Anführer zu sein. Er und der Schwarzgekleidete redeten abwechselnd auf die Brüder und Schwestern ein. Die anderen Sechs standen nur da und nahmen eine Haltung ein, die merkwürdig angespannt wirkte und die Rosen erschreckte. Sie kletterte noch ein Stück tiefer, um verstehen zu können, was da unten gesprochen wurde.
»… ich frage zum letzten Mal«, hörte sie den Schwarzgekleideten mit dem Lederhelm sagen. »Wo sind Windtänzer, Chandra Tsuyoshi und der Erdbarbar?«
»Nicht hier.« Rotbeer, die Mutter von Morgenblüte, antwortete mit fester, aber freundlicher Stimme. »Der Baumsprecher ist in der Elysiumebene unterwegs, und von den anderen beiden haben wir nie gehört.« Felsspalter war nirgends zu sehen.
»Und Vera Akinora und ihre Enkelin?«
»Sie besuchen Nomis Mutter in Elysium«, sagte Rotbeer.
Der Schwarzgekleidete wandte sich ab und sah in die Kronen der Siedlungsbäume hinauf. »Dame Vera Akinora!«, rief er. »Hier ist Carter Loy Tsuyoshi! Der Rat schickt mich, ich muss mit Ihnen sprechen !« Er wartete ein paar Atemzüge lang, aber niemand antwortete.
»Vera Akinora und Nomi wohnen in diesem Baum«, sagte Rotbeer freundlich. »Aber sie sind nicht zu Hause, wie gesagt…«
»Zum letzten Mal!«, fuhr der Schwarzgekleidete sie an.
»Wo verstecken sich euer Baumsprecher, Chandra Tsuyoshi und der Erdbarbar?!«
»Wir wissen es nicht«, beteuerte die älteste Frau Windtänzers.
»Ich warne euch«, sagte der Mann mit dem Lederhelm. »Ich bin Ratsmitglied, man belügt mich nicht folgenlos.!«
»Was fällt dir ein, Städter?« Rotbeers Gestalt straffte sich auf einmal. »Was redest du mit mir, wenn du glaubst, ich würde lügen? Verlass unsere Siedlung, ich mag dich nicht!«
»Darauf lege ich auch keinen Wert.« Der Städter ging an Rotbeer vorbei zu Windtänzers Korallenbaum. »Angeblich haust euer Häuptling hier in diesem Baum.«
»Das stimmt!« Rotbeer trat neben ihn. »Doch er ist nicht da, sage ich dir!«
»Wir werden sehen.« Der Schwarzgekleidete deutete zur Krone hinauf. »Durchsuchen!«
Rosen beobachtete, wie zwei der in silberne Anzüge Gekleideten zu den Fluggeräten liefen und einstiegen. Die Maschinen hoben ab, schwebten bis zur Krone hinauf und drangen in das Geäst ein. Laub raschelte, Äste brachen, Zweige und Blätter rieselten aus dem Baum.
»Rufe sie zurück!«, forderte Windtänzers älteste Frau. »Sie verletzen den Baum!« Auch die anderen Brüder und Schwestern stießen nun Rufe des Zorns und des Schreckens aus. Licht blitzte plötzlich auf in der Krone des Nachbarbaums – Rosen stockte der Atem: Sie schossen sich den Weg durch das Geäst frei!
»Frevler!« Rotbeer sprang zu dem Schwarzgekleideten.
»Das dürft ihr nicht tun!« Sie raufte sich das Haar. »Ich sage doch, dass Windtänzer nicht hier ist…!«
»Wir
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