1561 - Wächterin der Nacht
Schwester gehört. Und sie reagierte darauf. Trotz ihrer Schmerzen richtete sie sich auf.
»Verschwinde, du Mörderin! Ich will dich nicht mehr sehen! Geh zur Hölle! Da gehörst du hin!«
»Ja, das weiß ich, Judy. Ich werde nur nicht allein gehen, denn ich nehme dich mit. Hast du gehört? Wir werden gemeinsam in die Hölle gehen und…«
»Neiinnn!«, schrie Judy und musste dabei ihre ganze Kraft zusammenraffen.
»Neiiinnn…« Ihre Stimme brach ab und endete in einem Schluchzen.
Liliane lachte nur. Dann sagte sie: »Warte es ab. Es ist bald so weit.«
»Das denke ich auch«, erklärte ich und blieb nicht mehr länger in meiner Deckung.
Ich wollte den offenen Kampf!
***
Und den wollte sie auch, denn Liliane traf keinerlei Anstalten, ihren Platz auf der Treppe zu verlassen. Auf ihren Stufen fühlte sie sich offenbar wie eine Königin auf ihrem Thron. Ich musste zu ihr hoch.
Ich vernahm noch Judys geflüsterte Warnung.
»Bitte, geh nicht. Sie ist zu stark!«
»Keine Sorge.«
Ich wollte mich nicht länger aufhalten lassen. Es war besser, den Kampf so rasch wie möglich zu beenden.
Dabei dachte ich auch daran, die Beretta zu ziehen und auf die Gestalt zu feuern.
Allerdings konnte es auch eine Verschwendung der geweihten Silberkugel sein, denn ich schätzte Liliane als sehr stark ein.
Auf der ersten Stufe stehend zog ich trotzdem meine Pistole.
Liliane sah es, aber sie reagierte nicht. Auch nicht, als ich die Beretta anhob und auf sie zielte.
Kein Zucken, kein Weghuschen - nichts.
Ich wartete nicht länger und jagte die Kugel aus dem Lauf und in ihren Körper hinein. Ungefähr in ihrer Körpermitte blitzte es auf. Ich erwartete einen Schrei – dass sie sich aufzulösen begann. Aber nichts dergleichen geschah.
Keine Reaktion. Die Kugel musste durch die Gestalt geflogen sein, was mich wieder auf den Gedanken brachte, dass sie feinstofflich war. Nach dem Treffer schüttelte sie sich nur kurz, und ich hörte ihre schrille, mit Spott getränkte Stimme.
»Nein, so kann man keinen Engel töten!«
»Das bis du nicht!«
Sie lachte und bewegte ihre pechschwarzen Flügel. Es war ein schlimmes Bild, das nichts mehr mit dem eines Heiligen zu tun hatte. Sie schwebte jetzt über der Treppe, und ich konnte mir einen zweiten Schuss sparen.
Im nächsten Augenblick huschte sie davon. Ein einziger Schlag mit beiden Flügeln reichte aus, um schon die Baumhöhe zu erreichen.
Ich aber musste am Boden bleiben und konnte nichts anderes tun, als auf den zweiten Angriff zu warten. Ich ging auch nicht von Judy weg, die jetzt noch heftiger atmete als sonst. Zu den Schmerzen hatte sich bestimmt die Angst gesellt, die aber wollte ich ihr nehmen.
»Wir schaffen es, keine Sorge.«
»Ich kann nicht mehr daran glauben.«
»Das musst du aber.«
Ich bewegte mich zwar nicht von der Stelle, aber ich legte den Kopf in den Nacken, um die Luft über mir im Auge zu behalten. Ich glaubte nicht daran, dass sich Liliane länger verstecken würde. So etwas war wider ihre Natur.
Etwas blitzte in einem Wirrwarr aus Ästen und Zweigen innerhalb einer Baumkrone. Einen Moment später krachte oder knirschte es, dann flog etwas auf mich zu.
Zuerst dachte ich an das Schwert. Dann aber, als ich mit einem Sprung zur Seite glitt, sah ich den krummen Ast, der mich hatte treffen sollen. Er streifte aber nur meine Schulter.
Während ich mich bewegte, schoss mir noch eine Idee durch den Kopf. Ich schrie auf, sackte zusammen und erhob mich auch nicht wieder, sondern blieb auf dem Boden liegen.
Eine Täuschung, auf die Liliane hoffentlich hereinfiel.
In den nächsten Sekunden geschah nichts. Ich hörte nur das heftige Atmen der verletzten Judy. Kein Geräusch von oben, keine höhnende Stimme.
Es war so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm.
Die Augen hatte ich nicht völlig geschlossen und mich so hingelegt, dass ich noch etwas von der näheren Umgebung im Auge behalten konnte.
Liliane wartete nicht länger.
Geräuschlos segelte sie auf mich zu.
In diesen Augenblicken wurde es mir doch mulmig zumute, und ich fragte mich, ob ich mich richtig verhalten hatte.
Ich sah sie nicht, dafür aber Judy, und die tat mir indirekt einen Gefallen, denn sie lenkte ihre Schwester ab.
»Bitte, lass uns doch in Frieden. Wir haben all die Jahre so gut gelebt und…«
»Zu lange! Das muss sich ändern!«
»Nein, unsere Mutter ist tot! Du - du - brauchst niemandem mehr etwas zu beweisen.«
»Ich habe meine eigenen Pläne. Ich bin nicht grundlos in zwei
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