1561 - Wächterin der Nacht
Angst?«
»Nicht direkt. Ich empfinde eine gewisse Anspannung, das gebe ich gern zu.«
»Ich auch.«
»Okay.«
Liliane löste die Schwertspitze von der Stufe. Sie blieb über einer Kante schweben.
Dann begann sie zu sprechen und gab damit etwas von ihren Gefühlen preis.
»Es freut mich, dass du gekommen bist, Judy. Ja, ich freue mich darüber, denn darauf habe ich lange warten müssen.«
Ihre Stimme klang menschlich, aber sie war es nicht unbedingt, denn jedes Wort war mit einem Zirpen unterlegt, das etwas schrill in unseren Ohren nachklang.
Trotzdem war sie zu verstehen. Leider nicht zu begreifen.
»Was kann sie damit gemeint haben?«, flüsterte Judy. »Das - das hat so persönlich geklungen.«
»Ich kann es nicht sagen.«
»Aber ich kenne sie nicht. Und sie tut so, als hätte sie mich lange vermisst.«
»Sie wird es uns erklären.«
Judy wollte noch etwas sagen, doch Liliane kam ihr zuvor.
»Nun, du bist durcheinander? Hat dir Mutter nicht gesagt, was damals geschehen ist?«
»Nein, hat sie nicht.«
»Das ist schade. Hätte sie das getan, wäre vieles anders gekommen.«
»Ich verstehe gar nichts.«
»Keine Sorge, du wirst bald alles begreifen. Deshalb bin ich ja gekommen. Ich, die Wächterin der Nacht, die hier über den Schlaf der Toten wacht. Aber das bin ich erst später geworden, denn zuvor war ich etwas anderes.«
»Was denn?«
»Ich war wie du!«
»Wieso?«
»Und nicht nur das, Judy. Ich war sehr wie du. Hat dir unsere Mutter das nicht gesagt?«
Jetzt war es heraus! Die letzte Bemerkung war einfach so dahin gesprochen worden, doch in ihr steckte eine Brisanz, die Judy erschreckte, sodass sie sogar das Atmen vergaß.
Da ich sie festhielt, spürte ich deutlich, dass sie schwankte. Ohne den Halt wäre sie bestimmt gefallen, so aber konnte sie sich abstützen.
Auch mich hatte das Geständnis überrascht, aber ich reagierte gelassener, denn es ging mich nicht persönlich an.
»Unsere Mutter?«, flüsterte Judy.
»Ja, du hast mich schon richtig verstanden. Wir beide haben dieselbe Mutter.«
»Dann sind wir Schwestern.«
»Mehr noch, Judy. Schau mich mal genau an. Dann vergleiche dich mit mir. Wir sind nicht nur Schwestern, wir sind auch Zwillinge. Das ist die Wahrheit!«
Und sie war der zweite Schock für Judy, die sich jetzt noch fester an mich klammerte.
Sie kam mit plötzlich so schmal und schutzbedürftig vor, und sie hatte kaum mehr die Kraft, Liliane eine Antwort zu geben.
»Zwillinge?«, fragte ich an ihrer Stelle.
»Ja. Oder glaubst du, ich lüge euch an?«
»Das habe ich nicht behauptet!«, sagte ich. »Aber es ist für Judy völlig neu. Elisa hat ihr niemals etwas von dir gesagt. Deshalb wusste sie auch nichts von dir.«
»Nichts geschieht grundlos. So ist es auch hier gewesen. Elisa hat meine Existenz verschwiegen, denn ich starb, als ich ein halbes Jahr alt war.«
Ich nickte. »Akzeptiert. Und welche Krankheit hat dich…«
»Keine!« Diesmal klang die Antwort schärfer. »Unsere Mutter hat in ihrem Wahn eine von uns geopfert. Zum einen galt dieses Opfer ihren Heiligen, zum anderen dem Teufel, denn sie wollte sich absichern, nach beiden Seiten hin offen sein.«
»Und was geschah mit dir?«
Wir hörten ihr schrilles Lachen.
»Jede Partei wollte mich für sich. Man stritt sich um mich. Die Welt der Heiligen und auch die des Teufels. Es war ein Streit, den keiner so recht gewinnen konnte. Da prallten zwei Urmächte aufeinander, und so wuchs ich einmal auf der einen Seite auf und dann auf der anderen. Ich wurde größer, ich wuchs, und ich verwandelte mich in einen besonderen Engel, aber ich war niemals ohne Aufsicht. Ich erhielt sogar Flügel, die mit ihrem Aussehen meine doppelte Existenz dokumentierten. Einer gehört zum Erbe der Hölle, der andere zur Welt der Heiligen. Das ist es.«
Mir fiel es zwar nicht wie Schuppen von den Augen, aber ich wusste jetzt mehr. Ich konnte mir einiges zusammenreimen. Es war wieder mal der berühmte Dualismus, der in dieser Gestalt steckte. Auf der einen Seite das Positive, auf der anderen das Negative. In ihr hatten sich die beiden Gegensätze vereint, wobei ich bezweifelte, dass es eine friedliche Koexistenz war.
»Wie bist du gestorben?«
»Ein Unglück, das sagte meine Mutter. Aber ich glaube nicht daran. Das hatte ich schon gesagt.«
»Ich weiß. Du hast von einer Opferung gesprochen. Es ist mir nur schwer gefallen, so etwas zu glauben. Dabei habe ich schon einiges erlebt.«
»Das glaube ich dir sogar.«
»Und
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