1561 - Wächterin der Nacht
Sie sich Zeit.«
»Das muss ich wohl.«
Auch ich schaute mich um. Immergrünes Buschwerk mit feucht glänzenden Blättern umgab uns. Dahinter ragten Bäume auf.
Ich sah, dass Judy King mit der Spitze ihres Zeigefingers von der Stirn her über ihren Nasenrücken fuhr. Möglicherweise unterstrich diese Bewegung, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte.
»Und?«, fragte ich.
Sie drehte sich nach rechts. »Ja, jetzt erinnere ich mich. Ich weiß jetzt, welchen Weg wir nehmen müssen.«
»Gut.«
»Kommen Sie.« Judy ging auf eine dieser schmalen Einmündungen zu, die in einen Dschungel zu führen schien, so dicht bewachsen War die Umgebung. Hier hatte die Natur ungehemmt wuchern können. Ob sich die Gärtner um den alten Teil des Friedhofs kümmerten war mehr als fraglich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass hier noch Menschen begraben wurden. Zu dicht war das Gehölz, das auch alte Grabsteine umwuchert hatte. Wenn wir mal einen dieser Zeugen aus Stein sahen, wirkte er vom Zahn der Zeit angenagt und stand zumeist schief im Boden.
Aber es gab auch einen Lichtblick, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn dort, wo der Weg zu Ende war, wurde es heller.
Judy hatte es ziemlich eilig gehabt und war schon vorgegangen. Jetzt blieb sie stehen, drehte sich und winkte mir zu.
»Kommen Sie, John, ich habe es gefunden.«
Und das, ohne dass man uns gefunden hat, fügte ich in Gedanken hinzu und dachte dabei an Liliane.
Der Engel erschien mir auch nicht auf dem Rest der Strecke. Ich legte den Weg unbehelligt zurück und hielt neben Judy King an, die ihre Hände zu Fäusten geballt hatte und den folgenden Satz mehr zu sich selbst sprach.
»Ja, hier ist es!«
»Sind Sie sicher?«
Judy nickte, ohne mich dabei anzuschauen.
Die Umgebung bestand aus hoch gewachsenen Büschen. In der Nacht war es hier bestimmt stockfinster, denn es gab in der Nähe keine Laterne. Aber die Dunkelheit würde sich noch Zeit lassen.
Dennoch gab es hier Unterschiede.
Ein ganzes Stück weiter nach links hin breitete sich eine Rasenfläche aus, die gemäht worden war. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte und den Kopf ein wenig reckte, sah ich die Geometrie innerhalb der Rasenfläche. Es waren rechteckige Platten, die neben einander lagen. Ohne sie näher besichtigt zu haben, wusste ich, das hier die Menschen lagen, die anonym beerdigt worden waren. Im Moment war niemand da, der den Gräbern eine Besuch abgestattet hätte. Judy und ich waren die einzigen Menschen in der Nähe. An der rechten Seite sah es ganz anders aus. Dort sollte das Grab von Judys Mutter liegen. Es war nicht zu sehen.
Niemand pflegte es, niemand kümmerte sich um das Buschwerk, das sich im Laufe der Zeit ausgebreitet hatte. Es gab nur noch wenige Lücken, und in einer von ihnen fiel mir eine alte Treppe mit krummen Stufen auf, die einen Hang hinaufführte.
Vor der Treppe sah ich einige Gräber, und wahrscheinlich befand sich auch das Grab von Judys Mutter darunter.
»Erkennen Sie wirklich alles wieder, Judy?«
»Ja. Ich bin damals ja mehrmals hier gewesen. Die Natur ist nur gewuchert. Das sieht hier beinahe aus wie ein Dschungel.«
»Wie hieß Ihre Mutter eigentlich mit Vornamen?«
»Oh, Elisa. Darauf ist sie immer stolz gewesen, denn sie mochte den Namen sehr.«
»Und Ihr Vater?«
Sie winkte ab. »Darüber wurde nie gesprochen. Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich meine frühe Kindheit übersprungen und wäre ohne Übergang ins Teenageralter geraten. Ich weiß einfach zu wenig. Und über meinen Vater fast gar nichts. Ich hatte auch keine richtige Mutter wie andere Kinder. Aber das habe ich Ihnen schon erzählt.«
»Und ich habe es nicht vergessen. Wobei ich mich noch immer frage, was dieser Engel oder die Erscheinung mit Ihnen zu tun hat. Eine Gestalt mit farblich unterschiedlichen Flügeln, was sicher etwas zu bedeuten hat, davon bin ich überzeugt. Und ich mache mir zudem Gedanken darüber, wie die Erscheinung das Verhältnis zwischen Ihnen beiden sieht.«
»Können Sie das genauer erklären?«
»Nein, nicht direkt. Ich möchte nur von Ihnen wissen, ob Sie den Eindruck haben, dass die andere Seite Sie mag oder Sie ablehnt.«
Judy stöhnte auf. »Das ist schwer. Wie kommen Sie darauf?«
»Nun ja, ich habe nachgedacht und glaube, dass diese Gestalt sie irgendwie mag, aber nicht will, dass Sie etwas Bestimmtes tun. Etwas wie den Job auf dem Hoteldach zum Beispiel. Die Gestalt wollte nicht, dass Sie den Engel spielen.«
Judy King betrachtete mich
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