1561 - Wächterin der Nacht
jetzt?«
Auf ihre Antwort war ich gespannt und musste auch nicht lange warten.
»Jetzt bin ich gekommen, um die Dinge zu richten. Ich habe mich ohne meine Schwester immer unwohl gefühlt. Ich bin gekommen, um sie zu mir zu holen. Zwillinge gehören zusammen. Deshalb bin ich hier.«
Ich lachte scharf und fragte: »Als Wächterin der Nacht?«
»Ja, aber es gibt auch einen Tag. Dazu gehört sie.«
»Und weshalb hast du auf dem Dach des Hotels eingegriffen? Judys Freunde können vom Glück sagen, dass sie überlebten. Was sollte dieser Angriff?«
»Judy beging einen Fehler. Ich wollte nicht, dass sie wie ich ein Engel wurde. Auch nicht gespielt. Wer Engel sein darf und wer nicht, das bestimme ich.«
»Und was hast du dir für deine Schwester ausgedacht?«
»Sie wird mich als Mensch begleiten. Ihre Zukunft gehört mir. Wir werden uns nie mehr trennen. Unsere Mutter ist tot, aber ihr Erbe ist weiterhin vorhanden. In uns beiden. Von nun an gehen wir den Weg gemeinsam.«
Auch Judy hatte alles gehört. Ich hielt sie noch fest und spürte, wie sie in die Knie sackte. Durch meinen Griff stürzte sie nicht. Sie riss sich mit Gewalt zusammen, und als sie sprach, klang ihre Stimme irgendwie fremd.
»Das glaube ich einfach nicht, John! Das ist unmöglich.« Sie wischte mit der freien Hand durch ihr Gesicht. »Ich bin doch nicht im Film. Ich hätte doch irgendwann etwas davon gespürt, wenn ich eine Zwillingsschwester gehabt hätte.«
»Schauen Sie sich an, dann wissen Sie mehr.«
»Ist mir klar. Was sollen wir denn jetzt tun?«
»Abwarten. Noch ist nichts verloren. Glauben Sie mir. Auch Wesen wie Liliane haben ihre Schwachstellen.«
»Ich kann das alles nicht fassen.«
Das war mir klar. Doch momentan war nicht Judy für mich wichtig, sondern ihre Zwillingsschwester, und ihr galt meine nächste Frage.
»Wenn die beiden extremsten Gegensätze in dir stecken, welcher davon ist dann stärker?«
»Keiner. Sie halten sich die Waage. Mal ist es der eine, mal der andere. Es kommt auf die Situation an. Denk daran, der dunkle und der helle Flügel.«
»Ja, die habe ich gesehen.«
Liliane nickte. Es galt ihrer Schwester.
»Und jetzt lass ihn los und komm zu mir.«
Judy hatte sicherlich schon auf diese Aufforderung gewartet, und sie hatte Zeit genug gehabt, sich innerlich dagegenzustemmen. Das brach jetzt aus ihr hervor.
»Nein!« Es war wie ein Schrei. »Nein und nochmals nein! Ich werde nicht zu dir kommen!«
»Du wirst es müssen!« Die Antwort übernahm ich. »Das wird sie nicht, Liliane. Nicht, solange ich bei ihr bin.«
Ich wunderte mich schon, dass sie nichts erwiderte. Sie sah überhaupt nicht aus, als wollte sie reagieren. Sie tat es dann doch, und eigentlich hätte ich damit rechnen müssen.
Liliane hatte es geschafft, mich von ihren wahren Absichten abzulenken. Und so reagierte sie so überraschend, dass ich nicht mehr dazu kam, einzugreifen.
Sie sprang vor. Doch damit war es nicht getan. Sie übersprang sogar die Stufen.
Dabei wusste ich nicht, ob ihr Körper seine Stofflichkeit verloren hatte. Jedenfalls bewegten sich die Flügel noch mit zwei Schlägen, ich verspürte auch den scharfen Wärmestoß meines Kreuzes, doch nicht ich war das Ziel von Lilianes Angriff, sondern Judy.
Das lange Schwert war schneller. Und es traf sie dich unter der rechten Schulter!
Ich riss Judy zur Seite. Dabei stolperte ich. Zudem prallte sie noch gegen mich, sodass mich ihr Gewicht zu Boden riss, auf dem ich mit der Seite aufschlug.
Sekundenlang war die Lage für mich außer Kontrolle geraten. Weil Judy teilweise auf mir lag, war ich für einen Moment bewegungsunfähig. Ich musste zunächst mal unter ihr wegrutschen, um mich wieder frei bewegen zu können. Nachdem ich über eine halb im Boden versunkene steinerne Grabumrandung gestolpert war, kam ich endlich wieder auf die Füße und fuhr sofort herum. Dabei riss ich mein Kreuz aus der Tasche, das ein schwaches Licht abgab. Liliane war verschwunden. Nicht aber ihre Schwester. Die hatte sie in der Eile nicht mitgenommen. Judy lag verletzt auf dem Boden, atmete schwer und jammerte mit leisen Lauten vor sich hin.
An ihrer rechten Schulter sah ich die Wunde. Sehr tief war die Schwertspitze nicht in ihre Schulter eingedrungen, aber es reichte aus, dass Blut aus der Wunde sickerte.
Liebend gern hätte ich mich um die Verletzte gekümmert, aber ich wusste, dass eine Unperson wie Liliane niemals aufgeben würde.
Judy lag auf dem Rücken. Ihre Lippen zitterten. Sie wollte etwas
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