1563 - Blut-Geschwister
getaut.
Dafür hatte die Sonne gesorgt, die wie ein glühender Ball am Himmel stand.
Das Zwitschern der Vögel drang an ihre Ohren. Die Magnolienbäume standen in voller Blüte, und alles wies darauf hin, dass es eigentlich zu schade war, in der Wohnung zu bleiben.
Aber sie würden bleiben müssen, weil Harry Stahl sein Kommen angesagt hatte.
Amanda wischte über ihre Lippen und fragte dann mit leiser Stimme: »Wo mag er wohl sein?«
»Wen meinst du? Harry Stahl?«
»Nein, Boris.«
Walter hob die Schultern. »Frag mich was Leichteres. Er ist jedenfalls nicht wieder aufgetaucht. Ich habe ja mit dem Chef gesprochen. Der wusste sich auch keinen Rat.«
»Ach ja, was ich dich noch fragen wollte…«
»Bitte.«
»Hast du ihm von deinem Verdacht erzählt?«
Der grauhaarige Mann mit dem markanten Gesicht winkte mit beiden Händen ab.
»Nein, auf keinen Fall. Ich will hier die Pferde nicht scheu machen. Es soll alles seinen normalen Gang gehen. Auch bei dir. Du wolltest doch heute zum Friseur, oder?«
»Das hatte ich vor. Aber jetzt…«
»Kein Aber, Amanda. Es muss alles so weiterlaufen wie bisher. Keiner soll Verdacht schöpfen.«
»Okay, okay, wir belassen es dabei. Ich fühle mich nur alles andere als wohl. Wenn du recht hast und wenn ich daran denke, dass ein Vampir in der Nähe lauert, obwohl ich nicht so recht daran glauben kann, habe ich schon Angst.«
»Das ist ganz normal. Aber noch ist nichts passiert, und Harry Stahl wird uns helfen.«
»Das ist zu hoffen.« Sie lachte jetzt. »Ich hätte nie gedacht, dass uns so etwas mal passieren würde.«
Walter hob nur die Schultern. Danach trank er seinen Rest Orangensaft und stand auf.
»Willst du schon gehen?«
Er schaute auf die Uhr und danach seine Frau an. »Ja, das hatte ich eigentlich vor. Ich möchte mich mit Harry Stahl unten in der Lobby treffen. Da können wir alles bereden.«
»Ja, das ist in Ordnung. Ich werde dann zum Friseur gehen.«
»Tu das.«
Walter wollte das Geschirr auf ein Tablett räumen, doch seine Frau sagte, dass sie es selbst übernehmen würde.
»Danke, dann gehe ich jetzt.«
Amanda hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Und gib bitte auf dich acht, Walter. Ich möchte dich noch gern ein paar Jahre behalten. Und zwar so, wie du bist.«
»Danke, aber ich bin ja nicht allein.«
»Bis später dann.«
Walter Quirin hätte den Lift nehmen können. Darauf verzichtete er. Treppen steigen tat ihm gut, und so stiefelte er die Stufen bis zur Lobby hinab, die dem eines Vier-Sterne-Hotels in nichts nachstand.
Sitzgruppen mit orangefarbenen Polstern, der Boden in hellem Grau, indirekte Beleuchtung.
Hinter der Rezeption stand ein junger Mitarbeiter und schaute versonnen auf seinen Bildschirm.
Quirin ging zu ihm und wurde freundlich begrüßt. »Guten Morgen, Herr Quirin. Geht es Ihnen gut?«
Walter lächelte. »Ja, aber ich hätte da eine Frage.«
»Gern.«
»Ist Ihr Kollege Boris wieder aufgetaucht?«
Der junge Mann zeigte Bedauern. »Es tut mir leid, aber er ist nicht da. Wie vom Erdboden verschluckt. Wir fangen allmählich an, uns Sorgen zu machen.«
»Das verstehe ich.«
»Soll er sich denn bei Ihnen melden, wenn er wieder auftaucht?«
»Nein, das ist nicht nötig. Ich werde ihn dann selbst zu Gesicht bekommen, denke ich. Schönen Tag noch.«
»Danke, Ihnen auch.«
Walter Quirin ging zu einem Sessel, der strategisch sehr günstig stand.
Von diesem Platz aus schaute er durch die Glaswand des Eingangsbereichs bis zu den Besucherparkplätzen, die hinter einer Hecke lagen. Da sie beschnitten worden war und noch keine Blätter zeigte, war die Sicht ziemlich frei. Er würde sehen können, wenn der ehemalige Kollege eintraf.
Ein wenig beneidete er Harry Stahl schon. So toll die Residenz auch war, aber Walter wäre gern noch länger im Dienst geblieben. Aber von sechs Jahren hatte er in Pension gehen müssen.
Er hatte sein Leben zusammen mit seiner Frau neu eingerichtet. Es war wirklich nicht schlecht und spielte sich auf einem sehr hohen Level ab, aber das große Prickeln war nicht mehr vorhanden, und das war es, wonach er sich sehnte.
Leider gab es auch so gut wie keinen Kontakt mehr zu den ehemaligen Kollegen.
Das hatte sich nun geändert, und er war darüber fast dankbar.
Quirin schüttelte über sich selbst den Kopf, weil er so gedacht hatte. Bisher stand noch nicht fest, dass diese Frau das Blut des Pflegers Boris getrunken hatte, doch sein Verschwinden wies darauf hin.
Möglicherweise würde sich auch alles
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