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1567 - Die Auserwählten

Titel: 1567 - Die Auserwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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war ausgerechnet Hageas Schwester. Aber sie setzte Neidos Magersucht und Streitsüchtigkeit unerschütterliche Ruhe entgegen. Neido hatte recht, gewiß. Doch Hagea hatte nicht die Absicht, sich darum zu kümmern.
    Am Abend der zweiten Woche errichteten sie das letzte Haus.
    Als Hagea den Bauplatz besichtigte, zog ein Gebilde in unmittelbarer Nähe wie magisch ihren Blick an. Es war ein Baum. Ein sehr kleiner, fein verästelter Baum, der sie ein wenig an die Kima-Sträucher erinnerte. Zunächst begriff sie nicht, was sie vor sich hatte. Dann aber kamen ihr die Riesen aus dem Inselinneren in den Sinn ?und Hagea war fast erleichtert. Der Gedanke, die Bäume seien zum Aussterben verurteilt, hatte sie mit Trauer erfüllt. „Bluda!"
    „Was ist, Kleine?"
    Ihre Mutter war beschäftigt, ebenso wie die meisten anderen Erwachsenen, doch sie hatte keine Wahl. Die Störung mußte sein. „Bluda ... Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll."
    „Versuche es einfach." Die Linguidin legte kurz ihr Werkzeug beiseite, kniete nieder und wischte mit dem Handrücken über das verschwitzte, seit Tagen ungepflegte Gesichtshaar. „Was ist denn los?"
    „Wir dürfen dieses Haus hier nicht bauen, Bluda."
    Ihre Mutter lachte. „Wie stellst du dir das vor? Es ist doch schon fast fertig."
    „Glaub mir! Nicht an diesem Ort."
    „Und weshalb?"
    Hagea deutete auf den jungen Baum, der nur zwanzig Meter entfernt stand. „Deswegen. Ich habe solche Bäume auf der Insel gesehen. Sie werden über sechzig Meter groß. Aber der hier", sie deutete auf den kleinblättrigen Sproß, „... ist der einzige Nachwuchs, den es auf Nanam gibt. Wir stören an diesem Ort."
    „Hör zu, Hagea. Wir nehmen auf den Baum Rücksicht. Wir stören ihn nicht. Ich verspreche dir, die Familie wird ihn sogar schützen."
    Bluda richtete sich auf und rief zwei anderen Linguiden zu: „He! Wie würde es euch gefallen, wenn ein sechzig Meter hoher Baum auf euer Haus Schatten wirft?"
    Fröhliches Stimmengewirr war die Antwort.
    Bluda kniete erneut nieder. „Siehst du, Kleine? Dein Baum ist nicht in Gefahr."
    „Das ist nicht mein Baum", entgegnete Hagea heftig. „Es ist niemandes Baum. Wir müssen ihn in Ruhe lassen!"
    „Schluß damit. Geh wieder an deine Arbeit, wenn du Lust hast."
    Hagea preßte die Lippen zusammen. Sie spürte den Fehler geradezu, und sie wunderte sich, daß keiner der anderen dieselbe Sensibilität besaß.
     
    *
     
    Am nächsten Tag fehlte einer der Linguiden. Es handelte sich um einen Jungen in Hageas Alter.
    Niemand wußte, wohin er gegangen war; und seine Eltern beteuerten, er habe sich nie ohne ein Wort entfernt. Besonders nicht über Nacht.
    Die siebzig Linguiden kamen am Blaustrand zusammen. Bluda und zwei Männer teilten zwei Drittel der Erwachsenen in Suchtrupps ein, der Rest sollte im Bereich der Siedlung bleiben und abwarten. „Hagea! Neido!"
    Sie und ihre Schwester schauten Bluda an. „Was ist?"
    „Ihr bleibt hier, verstanden? Keine von euch läuft jetzt auf der Insel herum. Wir wollen nicht, daß ihr Kinder uns auf falsche Spuren führt."
    Die Suchkommandos brachen in verschiedene Richtungen auf, um die Insel abzukämmen. Hagea ging indessen gemeinsam mit dem Rest zurück zu den Häusern. Doch bereits die erste Gelegenheit nutzte sie aus; Neido war vorgelaufen, keiner der Erwachsenen schaute her. Hinter einem Busch ging sie in Deckung. Und erst als der letzte Linguide außer Sicht war, sprang sie auf und lief in Richtung Wald.
    Etwas hatte sich verändert.
    Zuerst wußte sie nicht, worauf der Eindruck sich gründete. Dann aber begriff sie, daß es der Geräuschpegel war. Obwohl von See her kaum Wind über Nanam strich, erfüllte das Rascheln von Blättern die Luft. Überall waren plötzlich die Roten. Die Pflanzen waren auch vorher schon dagewesen, gewiß, doch nun erst gewahrte Hagea sie mit voller Deutlichkeit. Die Roten bewegten sich. Um ihre Blüten herum schien die Luft zu flimmern, die Wurzeln steckten nicht in fester Erde, sondern in kleinen, schwarzen Häufchen.
    Als habe jemand sie erst vor kurzem eingepflanzt ... Oder sie waren gleichzeitig gelaufen. Es war unmöglich.
    Sie blieb stehen und beruhigte mühsam ihren aufgeregten Atem. Hatte sich eine der Roten bewegt?
    Nein, nein. Und doch war Hagea davon überzeugt, daß hier etwas vorging, was allen anderen außer ihr noch verborgen, blieb.
    Sie erreichte eine kahle Stelle im Wald. In der Mitte türmten sich Felsen zu einer natürlichen Formation von zehn Metern Höhe auf. Sie

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