1573 - Blick in die Zeit
zerstören."
„Ich fürchte, daß dies ein Punkt ist, an dem du noch arbeiten mußt", bemerkte Mirona Thetin spöttisch. „Ließe sich das denn nicht anders regeln? Stell dir nur mal vor, du gibst eines von diesen Dingern einem Lemurer, der mit der Gnade der Unsterblichkeit nicht umgehen kann. Dann hättest du nach Lage der Dinge keine einzige Chance, deinen Fehler nachträglich zu korrigieren."
„Das wäre unter Umständen ein Problem", stimmte Nermo Dhelim zu. „Um so wichtiger wäre es, von vornherein die größtmögliche Sorgfalt auf die Auswahl der potentiellen Träger zu verwenden."
„Eine Auswahl", murmelte sie nachdenklich. „Fragt sich nur, nach welchen Kriterien sie erfolgen sollte."
„Intelligenz, Verantwortungsgefühl ..."
„Ja, sicher, das auch", wehrte Mirona Thetin ungeduldig ab. „Aber was sollen wir uns jetzt, schon den Kopf darüber zerbrechen? Dazu bleibt uns doch später noch genug Zeit."
Nermo Dhelim schwieg verblüfft. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich verstand, wie sie das meinte. „Zeit!" fuhr sie fort, und ihre Stimme hatte einen ganz sonderbaren, ungewohnten Klang.
Eine seltsame Gier lag darin.
Er beobachtete sie von der Seite her. Sie schien es nicht zu bemerken.
Sie erschien ihm in diesem Augenblick wie ein Raubtier. Eines, das unter Menschen aufgewachsen und das darum bisher als zahm und sanft erschienen war.
Aber dieses Raubtier war gar nicht zahm. Es war nur ahnungslos, weil es noch nicht wußte, zu welchem Zweck die Natur ihm Krallen und Zähne mitgegeben hatte. Und plötzlich, zum allerersten Mal, sah dieses Raubtier seine angestammte Beute vor sich, und in Sekundenschnelle hatte es begriffen, was es damit auf sich hatte.
Es war etwas Erschreckendes daran, hier zu sitzen und zuzusehen, wie diese seltsame Gier in Mirona Thetins Blicken erschien. Es war, als erwache die Lemurerin jetzt richtig zum Leben. „Zeit!" wiederholte sie nach einer Weile.
Es klang sehr beunruhigend.
Sie tat einen langen, seufzenden Atemzug. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt - nicht, als wolle sie jemanden schlagen, sondern als hielte sie etwas fest. Sie legte den Kopf ein wenig zurück. Ihr Blick wirkte verklärt.
Sie sah aus, als hätte sie eben eine Offenbarung erlebt. „Zeit genug, all das zu tun, wozu ein einzelnes Leben normalerweise nicht ausreicht", flüsterte sie.
Sie wandte sich ihm zu. Ihre Augen strahlten ihn an. „Das ist die beste Entdeckung, die du je gemacht hast", sagte sie.
Nermo Dhelim hatte plötzlich Angst vor Mirona Thetin. Er erkannte, daß er ihr nicht mehr vertrauen konnte.
Es war ein Fehler gewesen, mit ihr über die Unsterblichkeit zu sprechen. Sie würde immer wieder zu diesem Thema zurückkehren. Sie würde keine Ruhe mehr geben, bis Nermo Dhelim ihr alle ihm bekannten Informationen zu diesem Thema verraten hatte. Ich sollte zusehen, daß ich so schnell wie möglich eine gehörige Distanz zwischen uns lege, dachte er. Jetzt, sofort! Trotzdem fühlte er sich immer noch zu ihr hingezogen. „Noch ist es nicht soweit", sagte er. „Noch sind diese Geräte nicht fertig. Und wenn sie es einmal sein werden ... Ich bin mir nicht ganz sicher, daß wir beide wirklich zu denen gehören sollten, die sie einmal tragen werden."
Sie starrte ihn schockiert an. Im nächsten Augenblick hatte, sie sich schon wieder gefangen. „Du mußt auf jeden Fall einer der Unsterblichen sein", sagte sie sanft. „Denn nur du könntest jederzeit weitere Aktivatoren anfertigen. Und was mich betrifft - nun ..."
Sie lachte leise auf und legte die Arme um ihn.
Dem Lemurer kam siedendheiß zu Bewußtsein, daß er ihr bereits viel zu viel erzählt hatte.
Unter seiner Kleidung hing der Aktivator auf seiner Brust. Wenn Mirona Thetin dieses Gerät erblickte, würde sie sofort wissen, worum es sich dabei handelte. Es würde überhaupt keinen Sinn haben, ihr dasselbe Märchen aufzutischen, mit dem Nermo Dhelim seine Tochter fürs erste abgelenkt hatte.
Er entzog sich ihrer Umarmung, indem er aufstand.
Mirona Thetin blickte zu ihm auf. „Was ist los?" fragte sie irritiert. „Ich habe noch zu arbeiten", erwiderte er schroff.
Er verließ sie so hastig, daß man fast von einer Flucht sprechen konnte.
5.
„Ich weiß nicht, was für eine Art von Schmuckstück das sein soll", sagte Ermigoa, als sie sich wiedersahen, „aber es muß wohl wirklich etwas Besonderes daran sein."
Nermo Dhelim schwieg. Ihm war klar, daß es an der Zeit war, seiner Tochter die Wahrheit zu
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