1575 - Der Gesang des Lebens
bei jedem anderen seines Volkes gewesen. Auch heute noch? Aus der Menge prallte Resonanz zu ihm zurück; ein Raunen lief durch die Reihen der Ophaler. Sie sahen zu ihm auf, als erwarteten sie, das Wirken einer Gottheit demonstriert zu bekommen.
Endlich löste sich ein Ophaler mit blaßroter Hautfarbe aus einer Gruppe, die ganz vorn stand, nahe an der HARMONIE. Der andere war mit nur einem Meter Größe sehr klein. Das jedoch machte er durch besondere Körperfülle wett. Die Ophaler in seinem Umkreis hielten zu jeder Zeit respektvoll Abstand. „Ich bin der höchste Singlehrer von Zaatur", sang er. „Mein Name ist Vogan Dool. Laß dir sagen: Ich habe nie zuvor eine Stimme gehört, die wie deine klingt. Ob du aber wirklich Salaam Siin bist, mußt du beweisen. Bist du es, wirst du auch wissen, wie."
Vogan Dool stimmte eine leise Melodie an. Jeder Ton war in seiner Stärke exakt berechnet und kam präzise.
Früher hatte Zaatur als hinterste Provinz gegolten, nicht einmal imstande, einen guten Chor zusammenzubringen. Doch wenn es heutzutage Sänger wie diesen hier gab, mußte sich einiges geändert haben.
Salaam Siin lauschte aufmerksam. Je länger er zuhörte, desto mehr schwand seine Nervosität und machte Euphorie Platz. Dool hatte den Gesang der Heraldischen Tore von Siom Som eingeleitet, und nacheinander kamen die Ophaler in seiner Nähe mit leisen Stimmen hinzu. Bald sangen mindestens hundert Personen. Der Chor verlor an musikalischer Präzision - aber gleichzeitig hatte er so sehr an psionischer Kraft gewonnen, daß sich Salaam Siin wie in einem Ozean aus Sinneseindrücken fühlte.
Vogan Dools Stimme blieb dominant.
Aber den leitenden Part hatte er nicht übernommen. Noch fehlte der Sänger, der dem Gesang die Präzision zurückgab, der Richtung und Ausdruck des Gesangs bestimmte.
Salaam Siin fiel leise summend ein. Die Heraldischen Tore ... Er erinnerte sich noch so gut daran, als wäre es erst ein paar Wochen her. Sie hatten immer schon die estartischen Wunder gepriesen, und heutzutage hatte das Volk der Ophaler nichts von seiner Fähigkeit eingebüßt.
Allmählich pumpte er seinen Membrankranz zu halber, dann erst zu voller Leistung auf. Und als er sicher war, im Chor der Sänger mithalten zu können, wechselte er abrupt die Stimmlage. Nun sang er fordernd, dirigierend.
Er war der Meistersänger. Er hatte die Nambicu ara wada gegründet, eine der berühmtesten Singschulen von Mardakaan. Und er war demzufolge der, dem sich im Chor alle zu beugen hatten.
Die Ophaler von Zaatur sangen lauter, dann mit voller Kraft. Doch seine Stimme drang mühelos durch den Klangteppich aus mehreren hundert Kehlen. Bestimmte Frequenzen, bestimmte Tonhöhen blieben immer für den Singlehrer frei. Der Gesang konnte noch so laut sein, er war selbst mit leisen Tönen immer hörbar. Jeder Blick hing an ihm. Salaam Siin steigerte allmählich die Intensität des Gesangs - alle anderen hatten keine Wahl, als ihm darin zu folgen. Die ersten Sänger verstummten, weil ihnen die psionische Kraft fehlte.
Aber jetzt erst ließ er den Gesang der Heraldischen Tore von Siom Som langsam in das übergehen, was Vogan Dool von ihm gefordert hatte.
Den Beweis.
Die Melodie, die Salaam Siin eigentlich nie wieder hatte singen wollen.
Die Klänge des vielstimmigen Satzgesangs verloren an Schönheit. Statt dessen führte er die Stimmen an eine monotone, fast brutale Tonart heran. Niemand, der noch im Chor war, konnte jetzt zurück.
Salaam Siin hatte sie gepackt. Dies war der Nambaq siwa, die Harmonie des Todes. Mit dieser Melodie konnte er quälen, verletzen - oder töten.
Er hatte den furchtbaren Zauber des Nambaq siwa schon oft erlebt. Deshalb wußte er, wie schwer es war, sich daraus zu lösen. Schon jetzt bereitete der psionische Anteil ihm körperliche Schmerzen. Die Ophaler unter ihm krümmten sich. Es war Zeit, aufzuhören.
Hätte er den Chor nun sich selbst überlassen, Vogan Dool und seine Leute hätten sich binnen weniger Minuten selbst umgebracht. Aber Salaam Siin brach den Zauber durch eine Tonleiter, die unmerklich wieder zum Gesang der Heraldischen Tore zurückführte.
Und nach zehn Minuten ließ er die Komposition mit traurigen Akkorden ausklingen. Der Chor verstummte, in den Gesichtern der Leute stand Erschöpfung.
Sie alle starrten hoch zu ihm. „Du bist es", sang Vogan Dool schließlich in die Stille. „Salaam Siin, einer der letzten großen Meistersänger.
Wir haben lange auf dich gewartet."
„Stalker!" Salaam Siin
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