1575 - Der Gesang des Lebens
geworden. Salaam Siin wurde bewußt, wie krank er aussah - aber das, so dachte er, war kein Wunder für einen Sterbenden.
Aus dem Nebel tauchte Stalkers Gesicht auf. Die dreieckigen Augen leuchteten in scheinbarer Besorgnis, seine Brauenwülste warfen lange Schatten auf das Drachengesicht. Im Hintergrund blitzten die klinisch sauberen Einrichtungen der Medozelle. „Ich hasse deine Stimme", sang Salaam Siin leise. „Das habe ich dir nie gesagt. Aber dein Sothalk ist so häßlich, daß..."
„Ja?" meinte Stalker ohne jede Regung.
Sein spitzer Schädel wirkte plötzlich drohend, das Hohlkreuz spannte sich mit furchtbarer Wucht.
Aber nein, dachte Salaam Siin, er phantasierte. „Wie dem auch sei, Sänger: Ich hoffe, daß es dir wieder besser geht. Was war los?"
„Nur ein vorübergehendes Unwohlsein. Du brauchst dir keine Sorgen um das Permit zu machen."
„Das beruhigt mich", entgegnete der ehemalige Sotho mit falscher Freundlichkeit. „Du weißt, wie sehr es mir darauf ankommt. Nun gut. Wenn du dich besser fühlst, kann ich mich um meine Angelegenheiten kümmern."
Welche das allerdings waren, setzte Stalker nicht hinzu. Irgend etwas mußte es mit Leenaia zu tun haben, doch Salaam Siin hatte jetzt nicht die Kraft, sich an Nichtigkeiten aufzureiben.
Auch die Sache mit den Estartischen Domen verschwieg er. Sein Begleiter würde nie etwas davon erfahren.
Ebensowenig wie Alaska Saedelaere, Siela Correl oder Roi Danton, wenn sie einander tatsächlich noch einmal trafen.
Salaam Siin hielt sich stundenlang in der Nähe des Raumhafens auf. Vom Dach eines hohen Gebäudes aus beobachtete er, wie in rascher Folge Raumschiffe aus dem Himmel fielen, Delegationen von Ophalern absetzten und wieder starteten. Er hätte gern jeden einzelnen Passagier begrüßt - doch im Augenblick verspürte er ein übermächtiges Bedürfnis nach Einsamkeit.
Hier oben hörte niemand die Töne, die er hin und wieder von sich gab. Nur Vogan Dool - aber der war ohne Bedeutung. Viele Stunden vergingen. Er summte hin und wieder Bruchstücke seiner Komposition, doch hatte sich nichts grundlegend verändert. Der letzte, geniale Funke fehlte. „Meistersänger!"
Er drehte sich um und sah hinter ihm seinen blaßhäutigen, fetten Diener. „Ja? Warum störst du mich?"
„Ich habe eine Nachricht bekommen", sang der andere respektvoll. „In genau einer Stunde wird das letzte der Schiffe landen. Dann sind die Singlehrer komplett auf Mardakaan angekommen."
„Und dann?"
„Man wird ein Konzert für dich veranstalten", kündigte Vogan Dool an. „Im Estartischen Dom, nicht wahr?"
„Ja."
Salaam San wußte genau, daß Dool nicht in allen Einzelheiten über den wahren Plan informiert war. Trotzdem fragte er: „Und weißt du auch, was dann geschehen wird?"
Der Singlehrer von Zaatur wackelte unsicher mit dem lang ausgefahrenen Hals. „Das weiß ich.
Du wirst sterben."
„Macht dich das nicht traurig?"
„Weshalb? Ist der Tod so schrecklich für dich?"
„Vielleicht nicht ... Aber was denkst du, zu welchem Zweck ich sterben werde?"
„Wir Singlehrer gehören zu den wenigen, die von ESTARTU wissen. Jedenfalls die, die nach Mardakaan eingeladen wurden. Und wir glauben, daß unsere besten Sänger in den Estartischen Domen aufgehen."
„Aber wozu das?"
„Damit unsere Musik für die Ewigkeit konserviert wird, denke ich."
Salaam Siin summte deprimiert und ließ ihn in dem Glauben.
Die beiden Ophaler schwiegen lange. Sie starrten in den Himmel, bis nach einer Stunde der letzte Diskus gelandet und anschließend wieder im Himmel von Mardakaan verschwunden war. Nur noch ein paar Stunden, dachte der Meistersänger. Dann lag der diesseitige Teil seiner Existenz hinter ihm. All die Feste, all die unbekannten Melodien, die Kulturen der Völker. Es fiel ihm so unglaublich schwer, Abschied zu nehmen. In den letzten Stunden hatte er sich in einen sonderbaren Zustand innerlicher Betäubung hineingesteigert. Er war noch nicht soweit, er hätte seinem Volk noch vieles geben können. Aber Qion Lanaa hatte ihm das Nanaado-Medikament verabreicht. Es war zu spät.
Gemeinsam mit Dool verließ er das Haus und suchte die HARMONIE auf. Wem sollte sein Schiff gehören, wenn es vorbei war? Es brauchte einen guten Herrn - jemanden wie Alaska Saedelaere. Der dürre Mensch war der, der ihn damals als kleinen Sänger zu den Gängern des Netzes geholt hatte. Außerdem kannte Alaska Saedelaere die Einsamkeit. Die Einsamkeit nämlich war es, die der Ophaler mit ihm gemein
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