1575 - Der Gesang des Lebens
nehme an, du hast mit den beiden Geistern des Doms gesungen."
„Das ... das ist richtig."
Salaam Siin richtete sich mühevoll im Sessel auf. Er starrte hinaus in die Ödnis des Planeten Mardakaan.
D’haan war eine riesenhafte, blendend grelle Scheibe im trüben Himmel, während sich hinter ihnen der Estartische Dom erhob. Ihm war noch immer kalt. Und außerdem hatte er jetzt begriffen, was wirklich vor sich ging. „Ich soll der nächste Sänger sein, nicht wahr? Du willst, daß mein Bewußtsein als drittes in den Dom eingeht."
„Ja. Deshalb wurde uns deine Rückkehr prophezeit. Du bist der, der dem Dom von Mardakka seine Seele geben soll. Du, Salaam Siin, wirst die Seele des Planes sein. Du bist der, der zweihundert ophalische Chöre in zweihundert Estartischen Domen vereinen kann. In tausend oder zweitausend Jahren, wenn alle heute Lebenden längst tot sind, lebt deine sängerische Kraft weiter. Ich habe dir auf Zaatur das Nanaado verabreicht."
Salaam Siin fühlte sich wie betäubt. Er hatte oft Angst vor dem Tod gehabt, hatte sich jedoch in Begleitung seiner Freunde Gucky, Beodu und Atlan immer wieder retten können. Und nun, da es soweit war, fühlte er statt Furcht nur eine Leere in seinem Kopf. Nicht einmal Melodien hörte er.
Stalker hatte recht gehabt. Lanaa hatte etwas in sein Essen gegeben, und er hatte dem Pterus-Klon nicht glauben wollen. Das rächte sich jetzt. Doch er wußte nicht einmal, ob er traurig oder zornig sein sollte. „Wie lange noch?" fragte er leise. „Ein paar Tage höchstens. Das war dein zweiter Naado. Der vierte wird deinen Körper töten und den Geist freisetzen. Seit meiner Rückkehr nach Mardakaan sind sämtliche Schiffe des Reiches unterwegs, um den Todeschor zu sammeln. Es gibt nicht viele Schiffe in unserem Reich, und sie alle werden eigentlich benötigt.
Ophaler werden sterben, damit dein Chor komplett ist."
Salaam Siin stöhnte laut auf. Er begriff das alles nur zur Hälfte. „Warum hast du nicht vorher mit mir geredet?"
„Hättest du auf mich gehört? Dieses Risiko war zu groß. Du darfst uns nicht wieder verlassen, weil mit dir der Plan steht und fällt."
„Es wäre ein anderer wie ich gekommen."
„Aber wann, Salaam Siin? Wir haben fünfhundert Jahre gewartet. Denke daran, daß es nicht mein Plan ist.
Denke an Lava Aag und Barcus Moon."
Ja, Qion Lanaa hatte recht. Salaam Siin lehnte sich in seinem Sitz zurück. Er war entsetzlich müde
6.
Der dritte Naado stellte sich zwei Tage später ein. Diesmal war ausgerechnet Stalker anwesend, als es passierte.
Salaam Siin traute dem anderen ohnehin nicht, deshalb fühlte er sich in den ersten Sekunden völlig ausgeliefert.
Aber der Augenblick verging rasch. Er verlor den Kontakt zur Realität und versenkte sich unter schweren Krämpfen in seine Komposition. Denn eines wußte er genau: Seine Harmonie des Lebens mußte noch vor dem entscheidenden Moment vollendet werden.
Stalkers Mühen spürte er hin und wieder aus weiter Ferne. Sein Körper wurde angehoben und transportiert.
Aber er kümmerte sich nicht darum.
Die Melodiebögen erhielten endlich Sinn. Je länger er in diesem Stadium verweilte, je schwerer die Krämpfe ihn schüttelten, desto rascher flossen ihm die Töne zu. Sie waren teilweise schon immer in ihm gewesen, und den Rest hatte er sich auf seinen Reisen erworben. Es war ein qualvoller Prozeß. Wäre er bei Bewußtsein gewesen, er hätte zwischendurch innehalten und Pause machen können. So aber litt er in kaum erträglichem Maß unter seinem zwanghaften Schöpferdrang. Furchtbare Schmerzen quälten ihn. War das schon der Tod?
Nein, nur die Wucht der Töne ...
Salaam Siin stand die Aufgabe bevor, daraus eine Einheit zu formen.
Die Harmonie des Lebens.
Nun hatte er alles beisammen.
Nur der letzte Funke fehlte noch.
Immer wieder ließ der Meistersänger die Musik durch seinen Geist klingen, und jedesmal stellte er einen nicht definierbaren Makel fest.
Was es war? Er hatte keine Ahnung. „Sänger! Hörst du mich?" wisperte eine Stimme.
Nicht jetzt, nur nicht jetzt! Nicht so kurz vor dem Ziel!
Aber die Stimme drängte mit jeder Sekunde weiter in sein Bewußtsein. „Salaam Siin! Kannst du mich hören? Ich sorge mich, Salaam Siin! Du bist der, der das Permit zum Dunklen Himmel beschaffen muß! Du darfst nicht sterben!"
Seine Sinnesknospen nahmen ihre Tätigkeit wieder auf. Schmerzen erfüllten jede Faser des Körpers, seine rote Borkenhaut war blaß und noch rissiger als vorher
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