1575 - Der Gesang des Lebens
Salaam Siin. „Wer denkt in solchen Zeiträumen?"
„Du kannst dir denken, wer. Niemand von uns Sterblichen weiß, ob der Plan gelingt, aber wir werden es versuchen."
„Gehört noch mehr dazu als nur die Dome?"
„Natürlich!" sang der Panish Panisha. Seine Stimme verlor sich im schalltoten Lebensstein der Wände. „Die Bauwerke allein sind wertlos. Wir müssen zunächst jedem einzelnen Dom seine Persönlichkeit geben, damit ein großes Netz entsteht. Dazu werden seit langer Zeit die besten Sänger unseres Volkes ausgewählt.
Auf der Höhe ihres Könnens erhalten sie vom jeweiligen Panish Panisha das Nanaado-Medikament."
„Diesen Namen habe ich nie gehört."
„Natürlich nicht. Er ist ebenfalls nur wenigen Eingeweihten bekannt. Ich bitte dich, niemandem gegenüber einen Ton verlauten zu lassen. Auch nicht bei Vogan Dool oder deinem Freund Stalker."
„Stalker ist nicht mein Freund", sang Salaam Siin ablehnend. „Dann ist es um so besser. Denn das Nanaado ist unser größtes Geheimnis, übrigens ebenfalls mit dunkler Herkunft. Ein Meistersänger, der es erhält, wird innerhalb weniger Tage in einen besonderen körperlichen Zustand versetzt. Die Kräfte schwinden, doch der Geist erlangt unglaubliche Kräfte, damit auch die psionische und sängerische Leistung. Und auf dem Höhepunkt löst sich der Geist vom Körper. Die Hülle stirbt - und die Persönlichkeit eines solchen Sängers geht in den Estartischen Dom ein."
Salaam Siin brachte nur ein paar ungläubige Melodiefragmente heraus, so überrascht war er. „Das kann nicht sein, Qion Lanaa."
„Warum nicht? Die Ophaler sind ein Volk voller Psionik. Wir nutzen nur einen Bruchteil unserer Fähigkeiten!"
„Aber nicht das. Es ist unmöglich."
„Keineswegs! Es gibt Vorbilder dafür. Wir kennen mehrere Beispiele beseelter Bauwerke. Die Synthese zwischen Geist und Materie ist schon oft vollzogen worden, wir sind nur Nachahmer."
Salaam Siin widersprach nicht mehr; denn in diesem Augenblick fielen ihm selbst zwei Parallelen ein. Atlan hatte ihm vom Dom Kesdschan auf Khrat erzählt, mit dem Geist von Rittern der Tiefe, und von der Stahlfestung Titan, in die einst ein Mann namens Leticron eingegangen war.
Lanaa fuhr fort: „Sobald ein Sänger das Endstadium erreicht hat, kommen alle Singlehrer des Reiches zusammen und bilden den Todeschor. Sie wissen, was geschehen wird, doch sie wissen nicht, auf welche Weise. Schon mehr als zwanzig Estartische Dome sind bisher beseelt worden. Das sind zehn Prozent."
„Mehr als zwanzig?" Salaam Siin ließ den Blick seiner Sehknospen über die glatten Wände wandern. „Auch dieser hier?"
„Ja. Der Estartische Dom von Mardakka ist der einzige, der einmal drei Bewußtseine tragen soll.
Zwei davon sind bereits in den Lebensstein übergegangen. Du kannst sie fühlen, wenn du willst."
„Wie?"
Qion Lanaa pfiff ein paar geheimnisvolle Laute. Dann jedoch sang er: „Durch einfachen Körperkontakt. Die Sänger werden deine Nähe spüren. Es sind Miic Deinen und Versa Cameen. Sie waren berühmte Singlehrer zu ihrer Zeit."
Salaam Siin bewegte sich gegen seinen Willen; er wäre am liebsten in der Mitte des Domes stehengeblieben und hätte nur abgewartet. Doch seine kurzen Beine bewegten sich wie von selbst auf den Rand der Kuppel zu.
Miic Deinen und Versa Cameen. War das möglich, was der Panish Panisha soeben behauptet hatte? Oder saß Salaam Siin einem gigantischen Schwindel auf?
Vorsichtig streckte er einen seiner Tentakelarme aus.
Die Greifbüschel tasteten über kalten, glatten Lebensstein. Und tatsächlich war da etwas wie eine elektrische Spannung. Das jedenfalls war es, woran Salaam Siin sofort denken mußte, denn durch seine Nervenknoten strömten undefinierbare Impulse. Er konnte nicht anders, er mußte mit allen Greifbüscheln zugleich den Stein spüren.
In dem Augenblick durchfuhr ein Krampf seinen Körper.
Ich bin Versa Cameen.
Es war ein mentaler Satz, den er nicht mit den Hörorganen, sondern durch die Haut aufgenommen hatte. „Mein Name ist Salaam Siin!" summte er leise, aber mit so intensiver Psionik wie nur möglich.
Keine Antwort.
Versa Cameen konnte nicht antworten, das begriff er in diesem Augenblick. Es war nicht das komplette Bewußtsein, das den Lebensstein beseelt hatte, sondern die Essenz einer Seele, die Persönlichkeit. Salaam Siin fühlte Cameens sängerische Kraft, die Präzision seiner Töne ... Von ihm ging eine Friedfertigkeit aus, wie Salaam Siin sie selten zuvor gespürt hatte,
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