1577 - Der Engelssohn
tiefe Stille um sie herum, wobei sie das Summen der Insekten kaum wahrnahm.
Die Ruhe tat ihr gut. Sie gab ihr das innere Gleichgewicht zurück, das sie haben musste, wollte sie gegen das bestehen, was auf sie zukam.
Sie dachte auch an ihren Mann. Er tat ihr leid. Dass der Würfel des Heils von der anderen Seite hatte manipuliert werden können, war für ihn mehr als nur eine böse Überraschung gewesen. Von einer Waffe hatte Godwin bei diesem geheimnisvollen Gegenstand nie sprechen wollen, er sah ihn nur als Indikator, als Warner an. Und jetzt musste er erleben, dass der Würfel sogar manipuliert werden konnte. Wer das schaffte, der besaß eine ungewöhnlich große Macht.
Die Einsamkeit tat ihr gut. Sie fühlte sich auch nicht von der anderen Seite bedroht und schloss die Augen. Dabei umspielte ein feines Lächeln ihre Lippen. Sie sah aus wie eine Frau, deren positive Gedanken äußerlich von ihr abzulesen waren.
Der schwache Wind, die Stille, die Wärme, all das erfüllte Sophie mit einer tiefen Zufriedenheit.
Auch die Stimme?
Sophie zuckte innerlich zusammen, als sie die erste Botschaft zu hören bekam. Jemand hatte mit ihr Kontakt aufgenommen, aber dieser Jemand war nicht körperlich existent. Es gab ihn in einer anderen Form, und er war dank seiner Kraft in der Lage, Entfernungen zu überbrücken, die für einen Menschen nicht messbar waren.
»Sophie…«
Die Stimme klang wie ein wundersamer Gesang, und sie musste ihr einfach antworten.
»Ja?«
»Bitte, hör mir zu.«
Die Gedanken wirbelten hinter Sophies Stirn. Es war nicht möglich, anhand der Stimme herauszufinden, wer da gesprochen hatte, denn die Botschaft hatte einen neutralen Klang gehabt.
»Ich höre dir zu.«
»Das ist gut. Öffne die Augen, bitte.«
Sie tat es nicht gern, weil sie befürchtete, dass ihre Konzentration darunter leiden könnte, aber sie folgte der Bitte.
Der Blick nach vorn.
Hatte sich im Garten etwas verändert? Nicht weit entfernt sah sie den kleinen Brunnen. Er war von einer grünen Fläche umgeben. Das Wasser rann nur träge aus ihm hervor. Ein Teil wurde noch vom Sonnenlicht gestreift, und genau in dieser Helligkeit glaubte sie etwas zu sehen. Ein helles Etwas, ein schwach glänzender Nebelstreif. Dünnes Ektoplasma, das in seiner äußeren Form so etwas wie eine Gestalt bildete.
Es vergingen Sekunden, in denen sich Sophie nicht bewegte. Ihr war klar, dass sie etwas erlebte, was mit dem normalen Verstand nicht zu begreifen war. Hier spielten sich Vorgänge ab, die man einfach hinnehmen musste.
Eine Stimme und eine feinstoffliche Gestalt, die vielleicht mehr als eine Einbildung war.
»Du weißt, wer ich bin, Sophie?«
»Ich denke schon. Dein Name ist Maria Magdalena. Du bist diejenige, die ich früher einmal gewesen bin. Und ich bin wiedergeboren worden und…« Sie kam nicht mehr weiter, weil diese Erscheinung sie einfach zu stark überwältigt hatte.
Ja, es stimmte. Sie war mal Maria Magdalena gewesen. Eine Frau, die polarisierte, die spaltete, die ebenso viele Anhänger wie Feinde hatte und über die schon vor langen Jahrhunderten einiges geschrieben worden war. Das alles ging ihr durch den Kopf, als sie nach vorn schaute und die feinstoffliche Gestalt betrachtete. Sie musste auch zugeben, dass ihr das Erscheinen Mut gemacht hatte, denn für sie war Maria Magdalena eine Beschützerin, und die Gefahr kam ihr nicht mehr so bedrohlich vor.
»Ich bin dir erschienen, um dir einen Rat zu geben, Sophie.«
»Danke.«
»Ich weiß, in welcher Lage du dich befindest. Die andere Seite hat dich als Opfer ausgesucht, dich und deinen Mann. Aber nichts geschieht, ohne dass es einen Lichtschimmer gibt, und dieses Licht ist dir bereits erschienen.«
»Bist du es?«, hauchte Sophie.
»Nein, es ist jemand anderes. Du hast es schon gesehen. Es ist das Kind, der Junge. Man hat dir Gabriel geschickt. Er wird sich gegen deinen Angreifer stellen. Du musst ihm vertrauen.«
Mit offenem Mund hörte sie zu. Die Stimme war so deutlich gewesen, dass sie alles verstanden hatte, aber sie begriff noch nicht, wie es einem kleinen Jungen möglich sein sollte, ihr zu helfen.
»Wer ist Gabriel?«
»Ein Kind.«
»Ja, das habe ich gesehen. Aber wer ist er genau? Ich werde aus ihm nicht schlau. Er sieht aus wie ein Kind, aber er benimmt sich nicht so. Wie soll ich ihn sehen?«
»Er wird sich auf deine Seite stellen.«
»Und dann?«
»Er ist ein Kind der Engel. Er kann nicht anders. Sie wachen über dich, Sophie.«
»Ist er mein
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