1577 - Der Engelssohn
normales. Ich könnte mir vorstellen, dass er in seinem Kopf ein großes Wissen gespeichert hat. Sogar ein Wissen, das nicht von dieser Welt stammt. Das er sich woanders geholt hat oder das ihm sogar mitgegeben worden ist. Von wem und von wo auch immer.«
»Ja, das ist möglich.« Der Templer furchte seine Stirn. »Der Junge heißt Gabriel«, murmelte er, »und ich kann mir nicht helfen, aber der Begriff Engel geht mir nicht aus dem Kopf.«
»Du denkst, dass er ein Engelkind ist?«
»Es ist alles möglich. Das sehe ich ja an mir. Ich wäre längst tot, hätte man mich nicht aus der Zeit der Kreuzritter in diese Zeit geholt. Nun ja, das ist vorbei.«
»Sehe ich auch so.« Sophie strich dem schlafenden Jungen eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wir sollten uns auf andere Dinge konzentrieren.«
»Und auf welche?«
»Wo lassen wir ihn schlafen? Für den Rest der Nacht, meine ich.«
»Hier bei uns im Bett. Er kommt in die Mitte, auf die Besucherritze. Oder nicht?«
»Den Vorschlag hatte ich gerade machen wollen.«
»Gut, dann legen wir uns wieder hin…«
***
Lange konnten sie nicht mehr schlafen, denn weit im Osten graute bereits der neue Tag.
Aber Sophie und Godwin wollten auch nicht aufbleiben und ruhelos umhergehen. Was kommen sollte, das würde auch kommen, und so versuchten sie, noch ein bis zwei Stunden Ruhe zu finden, was natürlich nicht einfach für sie war.
Die Ereignisse hatten sie aufgewühlt, da schloss man nicht eben mal die Augen, um in einen tiefen Schlummer zu fallen.
Sie versuchten es trotzdem, und beide hatten gleichzeitig den Eindruck, dass plötzlich etwas anders war.
Sie waren mit dem Jungen allein im Zimmer, es gab sonst nichts Fremdes, dennoch schien es ihnen, als würde etwas Fremdes versuchen, in den Raum einzudringen.
Eine andere Macht oder Kraft, die äußerlich nichts veränderte und dennoch in der Nähe war, und sie sorgte dafür, dass sie es nicht schafften, ihre Augen zu schließen. Dennoch fielen sie in einen leichten Schlummer.
Beide lagen starr auf dem Rücken. Ihre Augen waren nicht geschlossen.
Halb standen sie offen.
Sie befanden sich in einem ungewöhnlichen Zustand.
Sie nahmen die ihnen vertraute Umgebung wahr, fühlten sich aber trotzdem nur wie Zuschauer, die zu schwach waren, um in ein Geschehen eingreifen zu können.
Sie fühlten zudem, dass sich die Luft abgekühlt hatte. Nur war es keine normale Kälte. Sie kam woanders her, und sie war auch nicht unangenehm.
Zwischen ihnen lag Gabriel. Und der öffnete plötzlich die Augen, ohne dass Sophie und Godwin es bemerkten.
Der Junge schaute zur Decke. Dort war nichts zu sehen. Nur benahm er sich so, als gäbe es dort etwas, denn seine Lippen hatten sich zu einem warmen Lächeln verzogen.
Irgendetwas war dort vorhanden, das nur für ihn zu erkennen war.
Der Zustand dauerte nicht lange an, dann reagierte er wieder.
Diesmal zog er seine kurzen Beine an, stemmte sich mit den Hacken ab und brachte sich so in eine sitzende Haltung. Dabei hob er die Arme an und streckte sie der Decke entgegen.
Und das Wunder geschah.
Es war nicht zu erklären, aber ohne sein eigenes Zutun erhob sich der Junge. Er stand plötzlich im Bett zwischen den beiden Schlafenden, bewegte sich aber nicht von der Stelle, legte nur den Kopf zurück, um nach etwas zu schauen, was nur für ihn sichtbar war.
Dann ging er.
Nur zwei kleine Schritte weit, denn plötzlich hob er ab und schwebte der Decke entgegen. Er streckte die Arme aus, und plötzlich entstand ein helles Licht im Zimmer. Es breitete sich von einem Ende bis zum anderen aus, und der Junge ließ sich von ihm anlocken.
Seine Füße brauchten auch jetzt keinen Halt, den gab ihm eine andere Kraft, die ihn zu sich in das helle Licht holte, wo er sich auflöste.
Danach war alles wieder normal im Zimmer. Bis auf die Tatsache, dass Gabriel verschwunden war…
***
Beide erwachten zur selben Zeit, und beide fühlten sich wie erschlagen.
Aber beide wurden auch von dem gleichen Gedanken getrieben, denn alles drehte sich um den Jungen.
Godwin fuhr mit einem Ruck in die Höhe. Er starrte auf die Bettmitte und flüsterte: »Wo ist der Junge?«
Sophie hatte die Frage verstanden. Sie fühlte sich allerdings zu schlapp, ihm zu antworten. Aus ihrem Mund löste sich nur ein undefinierbarer Laut.
»Gabriel ist weg!«
Jetzt war auch sie alarmiert und fuhr hoch.
»Was sagst du da?«
»Er ist nicht mehr hier!«
»Und wo steckt er?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Im Bett ist er jedenfalls
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