158 - Orguudoos Brut
entfernt. Draußen verbreitete der Schnee fahle, lichtlose Helligkeit, die jedoch den Minenrand nicht erreichte, geschweige denn das Innere der Stollen. Onnar schritt in totaler Finsternis dahin – sicher und leichtfüßig, als wäre es heller Tag. Er war daran gewöhnt.
Kurz vor dem Ausgang blieb er einen Moment stehen und lauschte hinaus in die Nacht. Sie gehörte den Jägern, und man musste vorsichtig sein. Es war die Zeit, in der Schwache und Wehrlose gut daran taten, ihren Unterschlupf nicht zu verlassen.
Onnar lächelte. Er fühlte sich nicht schwach und wehrlos!
Die Tongidds konnten es durchaus mit den vierbeinigen Räubern der Steppe aufnehmen – davon zeugten die toten Bessiiner, die im unebenen Gelände draußen zu Stein gefroren.
Es waren zwei mächtige Rüden, die Onnar fast bis an die Schulter reichten.
Was hatten sie da nur gefunden?, grübelte er, während er sich in die Decke hüllte und Platz nahm. Onnar schlang seine Arme um die Knie und stützte das Kinn auf. Suchend wanderte sein Blick über den Schnee, der weich und glitzernd vor der Mine lag wie ein riesiges Wintertuch. Es war zerstanzt von Fußabdrücken, fünf Steppenwolf-Fährten und zwei Schleifspuren.
Onnar nickte versonnen. Dieses Muster erzählte eine Geschichte von Kampf und Verderben, und wenn man nur lange genug hinsah, war es, als kehrten die Geister der Akteure noch einmal zurück.
Vier große Wölfe. Zwei von ihnen zerrten lange dunkle Stücke durch den Schnee, die anderen tanzten um sie herum.
Gelegentlich bissen sie in das schwach schimmernde Aas, und es knackte laut. Dann kamen die Tongidds, alle bewaffnet. Sie verteilten sich. Eine Axt flog durch die Luft, blieb im Kopf des Leitrüden stecken. Er fiel. Ein anderer Bessiiner schnappte knurrend das verlorene Aas und floh. Die Alphawölfin fuhr auf Rrodan los, gemeinsam mit dem zweiten Rüden. Er musste ein Albino sein – oder eine Ausgeburt der Hölle –, denn seine Augen leuchteten blutrot. Das verunsicherte Rrodan. Sein Wurf ging daneben. Die Wölfe griffen sofort an. Onnar und seine Brüder kamen dem Tongidd zu Hilfe. Sie erledigten Rotauge, die anderen Bessiiner stoben davon.
»Weiber!«, knurrte Onnar bei der Erinnerung an das, was dann geschah.
Gerro, Ennark, Maan und Rrodan waren losgegangen, um die toten Wölfe vom Mineneingang weg zu ziehen. Es wäre fatal gewesen, sie in den Stollen zu holen, denn der Tag ging zur Neige und man wusste nicht, wen ihr Blutgeruch anlocken würde. Onnar hatte sich derweil daran gemacht, das halb unter zerwühltem Schnee verschwundene zweite Kadaverstück zu bergen. Er wollte wissen, von welchem Tier es stammte. Doch er konnte es nicht erkennen. Das Ding war hart, mit einer körnigen Fleischmasse, die nicht blutete. Onnar tippte auf ein Insekt, vielleicht ein Mammutkäfer oder ein Frekkeuscher. Die Frage war nur: Wo kam der her um diese Jahreszeit? Und wo war sein Rest?
Unwillkürlich zog der Tongidd die Schultern hoch. Er erinnerte sich noch gut an das Kribbeln im Nacken, das er in jenem Moment gespürt hatte. Es war sehr, sehr unangenehm gewesen – denn es wurde ausgelöst von einem Atem, der zwischen langen Reißzähnen hervor kam.
Onnar hatte sich dann umgedreht, langsam und ohne den sinnlosen Versuch, nach seiner zu weit entfernt liegenden Axt zu greifen. Hinter ihm stand die Alphawölfin, den Pelz gesträubt, die Lefzen lautlos hochgezogen. Sie war zurückgekehrt, um ihre Beute zu holen.
Onnar würde den Blick nie wieder vergessen, mit dem sie ihn taxiert hatte, während er ihr in Zeitlupe das Fleisch entgegen hob. Goldbraune Augen in einem schneeweißen Gesicht. So klug, so wissend – und so kalt. Sie hatte die Beute aus seiner Hand genommen, war damit ein paar Schritte rückwärts gegangen und dann in ruhigem Wolfstrab fortgelaufen.
»Weiber!«, wiederholte Onnar in einem Ton, als würde er ihr Geheimnis kennen, und stand auf. Er spürte Müdigkeit in seinen Gedanken und wusste, dass sie von der eisigen Kälte kam. Man durfte nicht lange draußen bleiben bei diesen Temperaturen, sonst schlief man ein und wachte nie mehr auf.
Der Tongidd dachte noch immer an die weiße Wölfin, während er einen letzten Rundblick ins Freie warf.
Sie hätte mir mit einem Biss die Kehle zerfetzen können und hat es nicht getan. Warum nicht?, fragte er sich und lieferte die Antwort gleich nach. Weil es zu einfach gewesen wäre, darum!
Ich habe ihren Gefährten getötet, vor ihren Augen, und sie will Rache! Aber Frauen sind anders
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