Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
158 - Orguudoos Brut

158 - Orguudoos Brut

Titel: 158 - Orguudoos Brut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
Vom Netzwerk:
der hinteren Regalecke und brummte wohlig. »Was ist das?«, flüsterte sie.
    Jem'shiins Kamshaa war mit keinem Tier vergleichbar, das die Barbarin kannte. Es stand auf großen Plattfüßen, hatte knotige lange Beine und einen rund gefressenen Bauch. Am Ende des Halses, der genauso gut ein haariges Stück Riesenschlange hätte sein können, schaukelte ein vergleichsweise kleiner Kopf herum. Auf dem Halskamm, vom Genick bis zur Kruppe, glänzten Hornschuppen. Sie setzten sich an der schmalen Seite der Hinterbeine fort. Das Erstaunlichste an diesem seltsamen Tier aber war zweifellos der Sattel. Aruula blinzelte ein paar Mal, weil sie glaubte, sie hätte sich getäuscht. Doch das hatte sie nicht: Auf dem Rücken des Kamshaas prangte ein angewachsener Reitsitz – aus je einem Höcker vorn und hinten und einer gemütlichen Lage Pelz dazwischen!
    Jem'shiin wurde ganz still. Er nahm das Halfter wie eine Schlinge in beide Hände und schlich, die Deckung der Regalreihen nutzend, auf das Kamshaa zu. Es befand sich schon etliche Wochen in Gefangenschaft und hätte eigentlich längst eingeritten sein müssen. Doch was für Jingiis und Yakks selbstverständlich war, galt nicht zwingend auch für Kamshaas, denn diese Nachfolger des asiatischen Steppenkamels waren noch eigenwilliger als ihre Vorfahren.
    Und klüger.
    Ruckartig flog der Kopf hoch, als Jem'shiin mit dem Halfter nahte. Das Kamshaa konnte den Mann nicht sehen – Jem'shiin war nicht umsonst ein shassun –, doch es hatte bereits einschlägige Erfahrungen mit ihm gesammelt und wusste sie zu nutzen. Ohne Eile setzte es sich in Bewegung. Immer schön an der Verkaufsreihe entlang und den Hals nach unten gereckt.
    Jem'shiin ging synchron auf der anderen Regalseite mit, das Halfter in den Händen und die schwankenden Höcker fest im Blick. Irgendwo davor musste der Kopf sein. Kam er nur ein einziges Mal über den Rand, würde Jem'shiin loshechten und ihm das Halfter überstülpen. So war es geplant.
    Den Boden konnte der shassun jetzt natürlich nicht beachten. Auf halber Strecke machte das Kamshaa eine geruhsame Kehrtwende, und Jem'shiin trat ein zweites Mal von einem Kothaufen in den nächsten.
    Aruula war am Eingang stehen geblieben. Sie verfolgte das Ganze mit verschränkten Armen und leisem Kopf schütteln.
    Unglaublich!, dachte sie.
    Inzwischen hatte das Tier die hintere Ecke erreicht. Jeden Moment musste es in Sicht kommen, und dann konnte Jem'shiin zupacken. Aruula wartete gespannt.
    Das Kamshaa verließ seine Deckung spurtend, trampelte mit hoch gezogenen Knien wie eine Holzmarionette über das kurze Stück zwischen den Verkaufsreihen und verschwand gleich wieder. Sein Kopf war nicht zu sehen gewesen – den hatte der lange Hals auf der abgewandten Körperseite versteckt.
    »Grash'naa woitschit!« Jem'shiin kickte ein paar vertrocknete Dunghaufen davon. Sie waren noch nicht gelandet, da tauchte das Kamshaa über dem anderen Regal auf.
    Die Nüstern bebten, der Unterkiefer mahlte, und das Tier gab die merkwürdigsten Töne von sich. Als ob es Jem'shiin verhöhnen würde. Wütend sprang er vorwärts, doch das alte Regal wollte sein Gewicht nicht halten und brach scheppernd zusammen.
    Erneut trottete das Kamshaa los; gemütlich Richtung Ausgang. Jem'shiin schlich ein zweites Mal neben ihm her, auf der anderen Seite des Restregals, das Halfter bereit. Es war ihm sichtlich peinlich, dass er noch keinen Erfolg gehabt hatte, und er zielte verbissen auf die leere Stelle vor den schwankenden Höckern.
    Er sah es nicht kommen, und ehe Aruula ihn warnen konnte, war es zu spät. Der Kopf des Kamshaas glitt zwischen den mittleren Regalböden hindurch. Lange gelbe Zähne wurden sichtbar. Sie versenkten sich in russischem Bauchspeck.
    »Oi, ra'pushnik!«, brüllte Jem'shiin mit Schmerztränen in den Augen und hieb dem Tier das Halfter übers Maul. Rumms, flog der Kopf hoch, und mit ihm ein paar scheppernde Regalböden. Das Kamshaa trabte los, erschrocken und in der Absicht zu fliehen.
    Aruula ließ ihre Arme sinken und machte sich bereit. Hier kommst du nicht vorbei!, dachte sie.
    An der Kopfseite des Regals stand eine fünfhundert Jahre alte Konservenpyramide. Es war ein Sonderangebot gewesen –Pfirsichhälften zu umgerechnet 1,35 Euro die Dose –, aber nur wenige der inzwischen löcherigen und verrosteten Behälter fehlten. Sie hatten Lagtai erst im Dezember 2011 erreicht, und da war kaum noch jemand hier gewesen; schließlich hatte man den Einschlagspunkt des Kometen auf

Weitere Kostenlose Bücher