1587 - Midnight-Lady
Martha Tresko darüber nachgedacht, ob es nicht reizvoll war, in eine andere Existenz einzutauchen, ebenfalls zu einer Wiedergängerin zu werden und in einer neue Existenz weiterzuleben.
Sie war nicht mehr die Jüngste und glaubte nicht daran, dass sie noch zwanzig Jahre zu leben hatte. Wenn sie allerdings den Keim der Blutsauger in sich trug, dann würde sich ihr Leben nicht nur verlängern, dann brauchte sie auch nicht zu sterben, wenn sie entsprechende Regeln einhielt und sich dabei sehr vorsah.
Der Gedanke war immer stärker in ihr geworden, aber sie hatte sich noch nicht getraut, ihre Freundin Selma zu fragen. Möglicherweise wurde sie noch als Mensch gebraucht, und Selmas Pläne gingen vor.
Martha schob alles von sich. Sie wollte erst den dritten Besuch ihrer Verbündeten abwarten. Danach konnte man weitersehen.
Die beiden Frauen mussten jetzt ohne sie zurechtkommen, und so trat Martha wieder den Weg nach oben an, in ihre andere Welt.
Sie ging vorsichtig, beinahe wie eine Fremde. Tief in ihrem Innern hatte sie gehofft, Selma hier noch anzutreffen, um mit ihr reden zu können, aber die MidnightLady war nicht mehr da.
Sicherheitshalber schaute Martha noch in ihrem großen Wohnraum nach. Auch dort war alles leer. So ging sie endgültig davon aus, dass Selma Blair verschwunden war, was sie etwas enttäuschte.
Dann gab es noch etwas, über das sie sich Gedanken machte. Das Verschwinden der Blutsaugerin war nicht normal gewesen. Es war mehr eine schnelle Flucht gewesen, was sie eigentlich nicht verstehen konnte, wenn sie daran dachte, wie stark die Vampirin war. Aber auch für sie schien es Grenzen zu geben, und darüber wunderte sich die Tresko und musste mit einem unguten Gefühl kämpfen.
Sie ging wieder zurück in den Flur, nachdem sie noch einen kräftigen Schluck aus der Wodkaflasche genommen hatte.
Oben wollte sie nicht nachschauen, aber einen Blick nach draußen werfen. Es konnte durchaus sein, dass sich Selma mit ihren Fledermäusen noch in der Nähe aufhielt und herausfinden wollte, was sie gestört hatte.
Martha Tresko bewegte ihre Hand auf die Türklinke zu und schaffte es nicht mehr, sie zu berühren.
Von der Außenseite wurde die Tür aufgestoßen. Und das so heftig, dass sie beinahe gegen den Körper der Frau geschlagen wäre. Im letzten Moment konnte sie noch einen Satz zurück machen.
Zum Glück brannte das schwache Licht noch, und so konnte sie sehen, wer da auf der Schwelle stand.
Eine ihr fremde und sehr blonde Frau.
Doch das war nicht alles.
Diese Person hatte die Lippen zurückgezogen, um ihre Zähne zu zeigen.
Und das tat sie nicht ohne Grund, denn sie wollte damit klarmachen, dass sie ebenfalls zu den Blutsaugerinnen gehörte…
***
Es war ein Augenblick der Wahrheit, der Martha Tresko regelrecht schockte. Sie hatte plötzlich das Gefühl, bis zum Hals in dickem Schlamm zu stecken, der ihr die Luft zum Atmen nahm. Zwar stand sie noch auf derselben Stelle, aber sie sah, dass sich die Welt um sie herum bewegte, als wäre sie ins Schunkeln geraten. »Nein…«
Justine Cavallo hatte dieses eine Wort gehört. Sie lachte und sagte danach nur ein Wort.
»Ja!«
Martha Tresko stand noch immer unter Schock. Es war ihr nicht möglich, sich zu bewegen.
»Hast du mich verstanden?«
Martha nickte.
»Wo ist sie?«
»Wer?«
»Die MidnightLady!«
Nach dieser Antwort war Martha endgültig klar, wen diese fremde Unperson suchte. Auch wenn sie beide zu den Wiedergänger gehörten, waren sie keine Partner, denn sonst wäre Selma nicht so schnell verschwunden. Die Fremde musste der Grund für ihre Flucht gewesen sein, und das konnte auch Martha nicht gefallen.
Und sie ging davon aus, dass sich diese Blutsaugerin nicht so verhalten würde wie Selma.
Sie hielt den Mund weit offen, und sie sah gierig aus.
Martha brachte kein Wort mehr hervor. Jetzt erlebte sie den ersten Angstschub, der bis hoch in ihre Kehle stieg und dort für Übelkeit sorgte.
Sie war nicht mehr in der Lage, etwas zu sagen, und wunderte sich sogar darüber, dass sie atmen konnte, auch wenn ihr das ebenfalls nicht leicht fiel.
»Wo ist sie?«
Martha Tresko wusste, dass sie jetzt antworten musste, wollte sie nicht ihr eigenes Todesurteil sprechen. »Nicht hier.«
»Aha. Aber sie war hier?« In der Frage schwang ein lauernder Tonfall mit.
Jetzt nur nichts Falsches tun!, hämmerte sich Martha ein. Sonst ist alles verloren.
»Ja, sie war hier.«
»Und weiter?«
»Jetzt nicht mehr. Sie ist wieder
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