1592 - Der Tiermensch
umzudrehen, und so bedeutete sie weiterhin keine Gefahr für Carlotta.
Was tun?
Jetzt zuckten die Gedanken wie Blitzeinschläge durch ihren Kopf. In ihrem Innern kribbelte es. Sie hasste es plötzlich, passiv zu bleiben.
Einfach nur im Wagen zu warten und zu beobachten, ob und wann etwas geschah.
Morgana schien sich nur für den Wald zu interessieren, und das dauerte bereits eine Weile an. Aber dann war es damit vorbei.
Carlotta sah deutlich das Zucken ihres Körpers. Es sah so, aus, als wäre es für Morgana so etwas wie ein Startsignal gewesen, und das traf auch zu. Sie brauchte nur noch zwei Schritte zu gehen, um den Waldrand zu erreichen, was sie auch tat. Dabei sank sie förmlich in das vom Wind angewehte Laub hinein und musste einige Zweige zur Seite drücken, um in den Wald einzudringen.
Sie wollte verschwinden.
Aber woher war sie gekommen? Diese Frage stellte sich Carlotta automatisch, und sie ärgerte sich, dass sie darauf keine Antwort wusste.
Sie gehörte nicht zu den Personen, die sich lieber passiv verhielten. Sie musste immer etwas tun, auch jetzt. Hier im Wagen zu hocken war nicht ihr Ding, obwohl sie schon ein schlechtes Gewissen überkam, als sie daran dachte, was sie Maxine und John versprochen hatte. So gern brach sie ein Versprechen nicht, aber in diesem Fall war es etwas anderes. Da spielten andere Dinge mit, denn sie war schließlich auf Morgana getroffen.
Für lange Diskussionen über Handy hatte sie keine Zeit. Sie musste sich entscheiden, sonst war Morgana verschwunden. Auch bei Tageslicht schluckte der Wald seine Beute schnell.
Die Entscheidung fiel in weniger als einer Sekunde. Carlotta wollte nicht länger warten und selbst etwas unternehmen. Deshalb öffnete sie behutsam die Tür, ließ sich ins Freie gleiten, drückte die Tür wieder zu und lief mit kleinen, aber schnellen Schritten auf den Waldrand zu.
Dabei schaute sie nach links zum Haus. Dort tat sich nichts. Auch hinter den Fenstern sah sie keine Bewegung.
Das Vogelmädchen war froh, als es das Haus endlich passiert hatte. Die Strecke bis zum Waldrand war nur noch ein Katzensprung, den es ebenfalls rasch hinter sich ließ.
Von Morgana Layton war nichts mehr zu sehen oder zu hören. Aus dem Wald wehten Carlotta zwar Geräusche entgegen, aber die waren normal und entstanden, weil die alten Blätter vom Wind bewegt wurden und dabei raschelten.
Der Blick blieb in der dichten grünen Wand hängen, und Carlotta musste einsehen, dass sie, wollte sie etwas erfahren, nicht länger am Waldrand stehen bleiben konnte.
Sie gab sich einen Ruck.
Sekunden später betrat sie den Wald!
***
Die Normalität war nahezu erschreckend, wenn ich daran dachte, was Carlotta in dieser Gestalt gesehen hatte. Halb Mensch, halb Tier.
Das sahen wir hier nicht, denn uns gegenüber saß ein völlig normaler Mann, der sich mit Maxine Wells unterhielt.
Ich hielt mich bewusst zurück, denn ich wollte sein Verhalten studieren.
Maxine hatte mich als einen Freund vorgestellt, der aus London zu Besuch gekommen war. Noah Lynch hatte das akzeptieren müssen, was er auch getan hatte, denn es schien keinerlei Probleme zwischen mir und ihm zu geben. Abgesehen davon, dass er mir hin und wieder einen misstrauischen Blick zuwarf.
Er hatte uns etwas zu trinken angeboten, und so stand auf dem Tisch eine Flasche Wasser. Die drei Gläser waren gefüllt. Wir nippten hin und wieder daran, und ich erlebte, dass der Mann mauerte, was die Antworten auf Maxines Fragen anging, die sehr konkret waren.
»Noch mal, Noah: Sie sind so plötzlich aus meinem Haus verschwunden. Das war kein normaler Abschied. Sie haben sich regelrecht aus dem Staub gemacht. Das hat schon einer Flucht geglichen.«
»Nein«, erwiderte er steif. »Das hat wahrscheinlich nur den Anschein gehabt.«
»Und was war mit der Veränderung? Mit den Haaren, die auf ihrer Hand gewachsen sind?«
Noah Lynch streckte uns seine beiden Hände entgegen.
»Sehen Sie hier Haare?«, fragte er.
»Nein«, sagte ich.
»Aha. Es ist also nicht so, wie sie es sagten, Maxine. Wir haben uns beide geirrt. Das ist nur menschlich.«
»Ist es«, bestätigte ich, »solange man ein normaler Mensch ist. Das scheinen Sie nicht mehr zu sein.«
»Wer sagt das?«, herrschte er mich an.
Ich dachte nicht daran, Carlottas nächtliche Aktion zu verraten und meinte nur: »Erinnern Sie sich einfach nur an die vergangene Nacht. An Ihre Verwandlung.«
»Was soll ich?« Er hatte es aggressiv gefragt.
»Ich möchte mich nicht
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