Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
16 Uhr 50 ab Paddington

16 Uhr 50 ab Paddington

Titel: 16 Uhr 50 ab Paddington Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
einen französischen Pass. Aber sie hat mal erwähnt, sie hätte einen englischen Ehemann.»
    «Einen englischen Ehemann? Am Leben – oder tot?»
    Madame Joilet zuckte die Schultern.
    «Tot, oder er hat sie verlassen. Woher soll ich das wissen? Diese Mädchen – ständig haben sie Männerprobleme –»
    «Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?»
    «Ich war mit meinem Ensemble sechs Wochen in London. Dann sind wir in Torquay aufgetreten, in Bournemouth, in Eastbourne, irgendwo, wo ich den Namen vergessen habe, und in Hammersmith. Dann sind wir nach Frankreich zurückgekommen, aber Anna – ist nicht mitgekommen. Sie hat bloß eine Nachricht geschickt, sie würde aus dem Ensemble ausscheiden und zur Familie ihres Mannes ziehen – irgend so ein Unsinn. Ich persönlich habe es nicht geglaubt. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass sie einen Mann kennen gelernt hat, wenn Sie wissen, was ich meine.»
    Inspector Craddock nickte. Ihm war klar, dass das Madame Joilets erster Gedanke sein musste.
    «Und ich weine ihr keine Träne nach. Es ist mir egal. Ich kann Mädchen bekommen, die genauso gut und besser tanzen, also zucke ich die Achseln und denke nicht weiter darüber nach. Warum sollte ich? Diese Mädchen sind doch alle gleich, haben nichts als Männer im Kopf.»
    «Wissen Sie das Datum noch?»
    «Wann wir nach Frankreich zurückgekommen sind? Das war – Moment – am Sonntag vor Weihnachten. Und Anna ist zwei – oder waren es drei? – Tage vorher durchgebrannt. Ich kann mich nicht genau erinnern… Aber am Wochenende sind wir in Hammersmith ohne sie aufgetreten – und das heißt, wir mussten neu choreographieren… Es war ziemlich ungezogen von ihr – aber diese Mädchen – sobald sie einen Mann kennen lernen, sind sie alle gleich. Ich habe ihnen allen gesagt: ‹Zut, ich nehme sie nicht wieder auf, dieses Flittchen!›»
    «Sehr ärgerlich für Sie.»
    «Pah! Mir macht das nichts aus. Bestimmt hat sie sich irgendwo einen Mann angelacht und die Weihnachtsferien mit ihm verbracht. Das geht mich nichts an. Ich kann genug andere Mädchen finden – Mädchen, die vor Freude jauchzen, wenn sie im Ballet Maritski mittanzen dürfen, und die genauso gut, wenn nicht besser tanzen als Anna.»
    Madame Joilet verstummte und fragte dann mit plötzlich aufflackernder Neugier:
    «Warum suchen Sie sie eigentlich? Ist sie zu Geld gekommen?»
    «Im Gegenteil», sagte Inspector Craddock höflich. «Wir glauben, dass sie ermordet worden ist.»
    Madame Joilet verfiel wieder in Gleichgültigkeit.
    «Pa se peut! Das kommt vor. Je nun! Sie war eine gute Katholikin. Jeden Sonntag ist sie zur Messe und sicher auch zur Beichte gegangen.»
    «Madame, hat sie Ihnen gegenüber je einen Sohn erwähnt?»
    «Einen Sohn? Soll das heißen, sie hatte ein Kind? Also das halte ich für äußerst unwahrscheinlich. Diese Mädchen haben – ich meine, die kennen doch alle eine nützliche Adresse für solche Fälle. Monsieur Dessin weiß das ebenso gut wie ich.»
    «Sie könnte ein Kind bekommen haben, bevor sie zum Theater gegangen ist», sagte Craddock. «Womöglich noch im Krieg.»
    «Ah! dans le guerre. Das ist natürlich möglich. Aber wenn, dann weiß ich nichts davon.»
    «Mit welchen Mädchen war sie am besten befreundet?»
    «Ich kann Ihnen zwei oder drei Namen nennen – aber echte Freundinnen hatte sie nicht.»
    Mehr war aus Madame Joilet nicht herauszubekommen.
    Als sie ihr die Puderdose zeigten, meinte sie, Anna habe so eine gehabt, die meisten anderen Mädchen jedoch auch. Anna konnte in London einen Pelzmantel gekauft haben – sie wusste nichts davon. «Ich habe mit den Proben zu tun, mit der Bühnenbeleuchtung, mit all den Problemen meines Berufs. Ich habe keine Zeit, auf die Garderobe meiner Künstlerinnen zu achten.»
    Nach Madame Joilet befragten sie die Mädchen, deren Namen sie von ihr bekommen hatten. Einige hatten Anna recht gut gekannt, aber sie alle sagten aus, sie habe wenig von sich preisgegeben, und dieses Wenige, sagte ein Mädchen, seien meist Lügen gewesen.
    «Sie erzählte gern Geschichten – mal war sie die Maitresse eines Großherzogs gewesen – mal die eines einflussreichen englischen Finanziers – oder sie hatte im Krieg für die Resistance gearbeitet. In einer Geschichte war sie sogar ein Filmstar in Hollywood.»
    Ein anderes Mädchen sagte aus:
    «Ich glaube, in Wirklichkeit stammte sie aus ganz einfachen bürgerlichen Verhältnissen. Sie war gern beim Ballett, weil sie das romantisch fand, aber sie war

Weitere Kostenlose Bücher