16 Uhr 50 ab Paddington
annehmen. Mordfälle haben oft eine ganz einfache Lösung, mit einem offen zutage liegenden niederträchtigen Motiv…»
«Glauben Sie an die geheimnisvolle Martine, Miss Marple?»
«Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Edmund Crackenthorpe ein Mädchen namens Martine geheiratet hat oder heiraten wollte. Emma Crackenthorpe hat Ihnen meines Wissens seinen Brief gezeigt, und nach meinem eigenen Eindruck und Lucys Beschreibung halte ich Emma Crackenthorpe für außerstande, so etwas zu fälschen – warum sollte sie auch?»
«Wenn wir also von der Existenz einer Martine ausgehen», sagte Craddock nachdenklich, «dann haben wir ein Motiv. Martines Wiederauftauchen mit einem Sohn würde die Anteile am Crackenthorpeschen Erbe verkleinern – wenn auch meiner Meinung nach nicht so weit, dass es einen Mord rechtfertigen könnte. Alle Beteiligten sind ziemlich finanzschwach –»
«Auch Harold?», fragte Lucy ungläubig.
«Auch der allem Anschein nach so wohlhabende Harold Crackenthorpe ist nicht der nüchterne und konservative Finanzier, für den man ihn auf den ersten Blick hält. Er hat sich schwer verspekuliert und in einige unerfreulich verlaufene Transaktionen gestürzt. Eine große Geldsumme in naher Zukunft würde seinen Bankrott abwenden.»
«Aber wenn das –», setzte Lucy an und stockte.
«Ja, Miss Eyelesbarrow –»
«Ich verstehe, Liebes», sagte Miss Marple. «Sie meinen, dann wurde die Falsche ermordet.»
«Genau. Martines Tod nützt Harold nichts – er nützt niemandem etwas. Nur –»
«Nur wenn Luther Crackenthorpe stirbt. Genau. Das fiel mir auch auf. Und Mr. Crackenthorpe senior ist laut Auskunft des Hausarztes ein weit zäherer Bursche, als es für Außenseiter den Anschein hat.»
«Der macht es noch jahrelang», sagte Lucy. Dann runzelte sie die Stirn.
«Ja?», ermunterte Craddock sie.
«Er war Weihnachten ziemlich krank», sagte Lucy. «Er hat gesagt, der Arzt hätte ein Affentheater gemacht – ‹Man hätte glauben können, ich wäre vergiftet worden, so ein Affentheater hat er gemacht.› Das waren seine Worte.»
Sie sah Craddock fragend an.
«Genau», sagte Craddock. «Danach wollte ich mich bei Dr. Quimper auch erkundigen.»
«Also, ich muss los», sagte Lucy. «Himmel, ist das spät.»
Miss Marple legte ihr Strickzeug weg und griff nach einem halb ausgefüllten Kreuzworträtsel der Times.
«Wenn ich bloß ein Wörterbuch hätte», murmelte sie. «Tontine und Tonika – die beiden verwechsle ich immer. Ich glaube, das eine hat mit Tonleitern zu tun.»
«Das ist die Tonika», sagte Lucy und drehte sich an der Tür noch einmal um. «Aber das eine Wort hat sechs Buchstaben und das andere sieben. Wie lautet denn die Frage?»
«Ach, mit dem Kreuzworträtsel hat das nichts zu tun», sagte Miss Marple vage. «Es ging mir nur so durch den Kopf.»
Inspector Craddock musterte sie prüfend. Dann verabschiedete er sich und ging.
Siebzehntes Kapitel
I
C raddock musste einige Minuten warten, bis Quimper seine Abendsprechstunde beendet hatte und zu ihm kam. Der Arzt sah müde und deprimiert aus.
Er bot Craddock einen Drink an, und als der Inspector annahm, schenkte er sich ebenfalls einen ein.
«Die armen Teufel», sagte er und ließ sich in einen abgenutzten Sessel sinken. «So verängstigt und so dumm – einfach unvernünftig. Hatte gerade so einen traurigen Fall. Eine Frau, die vor einem Jahr zu mir hätte kommen müssen. Damals hätte man sie erfolgreich operieren können. Jetzt ist es zu spät. So was macht mich wahnsinnig. Die meisten Menschen sind eine merkwürdige Mischung aus Heldentum und Feigheit. Diese Frau hat entsetzliche Qualen gelitten und ohne ein Wort der Klage ertragen, weil sie zu viel Angst davor hatte, ihre Befürchtungen könnten sich als wahr erweisen. Am anderen Ende der Skala stehen die wehleidigen Leute, die herkommen und mir die Zeit stehlen, weil sie eine gefährliche Schwellung am kleinen Finger haben. Sie halten sie mindestens für Krebs, und meistens stellt sie sich als normale Blase oder allenfalls Frostbeule heraus. Ach, beachten Sie mich gar nicht. Ich muss einfach ab und zu Dampf ablassen. Weswegen wollten Sie mich denn sprechen?»
«Als Erstes möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie Miss Crackenthorpe geraten haben, sich mit dem Brief der vorgeblichen Witwe ihres Bruders an mich zu wenden.»
«Ach das. Konnten Sie was damit anfangen? Ich habe ihr nicht direkt geraten, sich an Sie zu wenden. Sie wollte. Sie machte sich Sorgen. Ihre
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