16 Uhr 50 ab Paddington
auskenne. Ich weiß, dass Raymond eines Tages nicht mehr zu ihm gegangen ist, sondern zur Werkstatt in der Milchester Road. Und was Emma angeht», setzte sie gedankenverloren fort, «so erinnert sie mich ganz außerordentlich an Geraldine Webb – immer so still und ein wenig nachlässig gekleidet – und immer unter der Fuchtel ihrer alten Mutter. Welch eine Überraschung, als die Mutter unerwartet verstarb und Geraldine plötzlich ein kleines Vermögen ihr Eigen nennen konnte. Sie ließ sich die Haare schneiden und ondulieren, ging auf eine Kreuzfahrt, und als sie zurückkam, war sie mit einem sehr netten Rechtsanwalt verheiratet. Sie hatten zwei Kinder.»
Die Parallele war mit Händen zu greifen. Lucy sagte etwas unbehaglich: «Glauben Sie, es war gut, was Sie über Emmas Heiratschancen gesagt haben? Die Brüder kamen mir ziemlich bestürzt vor.»
Miss Marple nickte.
«Ja», sagte sie, «so sind die Männer – sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Allerdings ist es Ihnen vermutlich auch nicht aufgefallen.»
«Nein», räumte Lucy ein. «Ich hätte nie an so etwas gedacht. Beide kamen mir –»
«So alt vor?», sagte Miss Marple lächelnd. «Aber Dr. Quimper dürfte die vierzig noch nicht weit überschritten haben, auch wenn er an den Schläfen schon grau wird, und ganz offenkundig sehnt er sich nach Häuslichkeit; und Emma Crackenthorpe ist noch keine vierzig – nicht zu alt, um zu heiraten und eine Familie zu gründen. Die Frau des Arztes ist ganz jung im Kindbett verstorben, wenn ich recht verstanden habe.»
«Ich glaube, das stimmt. Emma hat neulich so etwas erwähnt.»
«Er muss einsam sein», sagte Miss Marple. «Ein fleißiger, viel beschäftigter Arzt braucht eine Frau an seiner Seite – eine verständnisvolle und nicht zu junge Frau.»
«Hören Sie, meine Beste», sagte Lucy, «ermitteln wir hier bei einem Verbrechen, oder betreiben wir Kuppelei?»
Miss Marple zwinkerte.
«Ich fürchte, ich bin unheilbar romantisch. Vielleicht weil ich eine alte Jungfer bin. Wissen Sie, liebe Lucy, soweit es mich betrifft, haben Sie Ihren Vertrag erfüllt. Wenn Sie vor Antritt Ihrer nächsten Stelle noch ins Ausland reisen wollen, hätten Sie jetzt noch Zeit.»
«Ich und Rutherford Hall verlassen? Niemals! Ich habe Blut geleckt. Bin fast so schlimm wie die Buben. Die verbringen ihre gesamte Zeit mit der Suche nach Beweisen. Gestern haben sie die Mülleimer durchwühlt. Richtig eklig – dabei haben sie gar keine Ahnung, wonach sie suchen sollen. Inspector Craddock, wenn sie plötzlich triumphierend mit einem Papierfetzen zu Ihnen kommen, auf dem steht ‹Martine – bleib der Großen Scheune fern, wenn dir dein Leben lieb ist!›, dann wissen Sie, dass ich mich ihrer erbarmt und den Zettel im Schweinestall versteckt habe!»
«Warum im Schweinestall, Liebes?», fragte Miss Marple neugierig. «Hält man dort Schweine?»
«O nein, längst nicht mehr. Aber – ich gehe da manchmal hin.»
Aus unerfindlichen Gründen wurde Lucy rot. Miss Marple betrachtete sie plötzlich mit anderen Augen.
«Wer ist momentan alles im Haus?», fragte Craddock.
«Cedric ist da, und Bryan bleibt übers Wochenende. Harold und Alfred kommen morgen. Sie haben heute vormittag angerufen. Sie müssen Öl ins Feuer gegossen haben, Inspector Craddock.»
Craddock lächelte.
«Ich habe sie ein bisschen aufgerüttelt. Habe sie gefragt, was sie am Freitag, den 20. Dezember, gemacht haben.»
«Und hatten sie Alibis?»
«Harold ja. Alfred nicht – vielleicht wollte er nicht.»
«Alibis müssen schrecklich schwierig sein», sagte Lucy. «Zeiten und Orte und Daten. Es muss doch auch schwer sein, so etwas nachzuprüfen.»
«Man braucht Zeit und Geduld – aber wir haben unsere Methoden.» Er sah auf die Uhr. «Ich fahre gleich nach Rutherford Hall, um mich mit Cedric zu unterhalten, aber vorher möchte ich noch Dr. Quimper auftreiben.»
«Das sollte möglich sein. Seine Sprechstunde beginnt um sechs, und um halb sieben ist er meistens fertig. Ich muss zurück und mich ans Abendessen machen.»
«Ich wollte Sie noch nach Ihrer Meinung fragen, Miss Eyelesbarrow. Wie hat man eigentlich im engsten Familienkreis auf die Angelegenheit mit Martine reagiert?»
Lucy antwortete ohne zu zögern.
«Alle sind wütend auf Emma, weil sie damit zu Ihnen gegangen ist – und auf Dr. Quimper, der sie angestiftet haben soll. Harold und Alfred glauben, es sei ein Versuchsballon gewesen, und halten alles für einen Schwindel. Emma ist sich nicht sicher.
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