16 Uhr 50 ab Paddington
Cedric hält es zwar ebenfalls für Lug und Trug, nimmt es aber nicht so ernst wie die beiden anderen. Bryan scheint dagegen überzeugt zu sein, dass es sich um die echte Martine handelt.»
«Warum wohl?»
«Ach, Bryan ist einfach so. Er nimmt alles für bare Münze. Er glaubt, es sei Edmunds Frau – beziehungsweise Witwe – gewesen, die plötzlich nach Frankreich zurück musste, aber wieder von sich hören lassen wird. Dass sie weder geschrieben noch sich auf andere Weise gemeldet hat, findet er ganz normal, weil er auch nie Briefe schreibt. Bryan ist ein zutraulicher Kerl. Wie ein Hund, der ausgeführt werden will.»
«Und führen Sie ihn aus, Liebes?», fragte Miss Marple. «Vielleicht zu den Schweineställen?»
Lucy warf ihr einen durchdringenden Blick zu.
«Wo doch so viele Gentlemen im Haus ein und aus gehen», sinnierte Miss Marple.
Wenn Miss Marple das Wort «Gentlemen» aussprach, hatte es immer seinen ganzen viktorianischen Beigeschmack – den Nachhall längst vergangener Zeiten. Man sah sofort schneidige, kräftige (und vermutlich schnurrbärtige) Männer vor sich, manchmal lasterhaft, aber immer Kavalier.
«Sie sind so ein hübsches Mädchen», setzte Miss Marple hinzu und musterte Lucy. «Ich könnte mir denken, dass Sie in Rutherford Hall im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, oder?»
Lucy wurde wieder rot. Erinnerungsfetzen gingen ihr durch den Kopf. Cedric, der an der Mauer des Schweinestalls lehnte. Bryan, der melancholisch auf dem Küchentisch saß. Alfred, dessen Finger die ihren berührten, als er ihr beim Einsammeln der Kaffeetassen half.
«Gentlemen», sagte Miss Marple und klang, als spräche sie von einer fremdartigen und gefährlichen Tierart, «sind in gewissen Eigenarten alle gleich – sogar wenn sie schon alt sind…»
«Aber meine Beste», rief Lucy. «Noch vor hundert Jahren hätte man Sie als Hexe verbrannt!»
Und sie erzählte die Geschichte vom unverbindlichen Heiratsantrag des alten Mr. Crackenthorpe.
«Um ehrlich zu sein», sagte Lucy, «alle haben mir auf die eine oder andere Art Avancen gemacht. Harold war sehr korrekt – eine finanziell vorteilhafte Stellung in der City. Ich glaube nicht, dass es an meinem attraktiven Äußeren liegt – sie müssen glauben, ich wüsste etwas.»
Sie lachte.
Inspector Craddock lachte jedoch nicht.
«Seien Sie bloß vorsichtig», sagte er. «Man könnte Sie umbringen, statt Ihnen Avancen zu machen.»
«Das wäre wahrscheinlich einfacher», bestätigte Lucy.
Dann erschauerte sie.
«Man vergisst das so leicht», sagte sie. «Die Buben haben so viel Spaß gehabt, dass man alles für ein Spiel halten möchte. Aber es ist kein Spiel.»
«Nein», sagte Miss Marple. «Mord ist kein Spiel.»
Sie schwieg einige Augenblicke, dann sagte sie:
«Müssen die Jungen nicht bald wieder in die Schule?»
«Doch, nächste Woche. Sie fahren morgen zu James Stoddart-West nach Hause und verbringen dort die letzten Ferientage.»
«Das ist gut», sagte Miss Marple ernst. «Es wäre schlimm, wenn etwas passierte, solange sie hier sind.»
«Dem alten Mr. Crackenthorpe, meinen Sie? Halten Sie ihn für das nächste Mordopfer?»
«O nein», sagte Miss Marple. «Ihm wird nichts passieren. Ich dachte eher an die Jungen.»
«Sie meinen Alexander.»
«Aber wie –»
«Wegen ihrer Jagd, wissen Sie – der Suche nach Beweisen. Jungen lieben so etwas – aber es könnte sehr gefährlich werden.»
Craddock sah sie nachdenklich an.
«Miss Marple, Sie glauben also nicht, dass es sich bei diesem Fall um eine Unbekannte handelt, die von einem Unbekannten ermordet worden ist, stimmt’s? Für Sie ist es ausgemachte Sache, dass der Mord mit Rutherford Hall zu tun hat.»
«Ja, ich sehe da eindeutige Zusammenhänge.»
«Wir wissen vom Mörder nur, dass er ein groß gewachsener dunkler Mann ist. Das hat Ihre Freundin ausgesagt, und mehr konnte sie nicht sagen. Es gibt in Rutherford Hall drei groß gewachsene dunkle Männer. Am Tag der gerichtlichen Untersuchung war ich hier und habe die drei Brüder gesehen, die am Bordstein standen und auf den Wagen warteten. Sie kehrten mir die Rücken zu, und es war verblüffend, wie sie in ihren dicken Mänteln alle gleich aussahen. Drei groß gewachsene dunkle Männer. Und dabei sind sie in Wirklichkeit ganz verschiedene Typen.» Er seufzte. «Das macht es ganz schön kompliziert.»
«Ich frage mich», murmelte Miss Marple, «ich frage mich schon die ganze Zeit, ob die Lösung nicht weit einf a cher ist, als wir
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