1605 - Blutnacht - Liebesnacht
Probleme bekommen.
Die Zeit tickte. Er kam nicht. Anne blickte nicht nur nach vorn, sie drehte sich auch um, um in alle Richtungen zu schauen.
Allmählich wurde ihr kalt. Trotz des warmen Atems hatte sie das Gefühl, eine leichte Eiskruste auf den Lippen zu spüren, und sie nahm sich vor, nicht mehr lange zu warten. Eventuell wollte sie noch über ihr Handy ins Internet gehen und die entsprechende Seite anklicken, um herauszufinden, ob dort eine Botschaft für sie hinterlassen worden war.
So weit war es noch nicht. Sie warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass die verabredete Zeit um eine Minute überschritten war. Das war noch nicht weiter tragisch.
Wieder schaute sie über den Friedhof hinweg. Große Hoffnung hatte sie nicht, doch dann zuckte sie zusammen, als sie die Bewegung sah.
Das war kein Tier, das durch die Kälte huschte. Diese Gestalt war ein Mensch.
Das war er! Das musste er einfach sein.
Für Anne Höller gab es keinen Zweifel. Sie spürte plötzlich keine Kälte mehr. Die Aufregung trieb heiße Schauer durch ihren Körper, und auch ihr Herz schlug schneller. Bisher hatte sie sich vor der Mauer aufgehalten. Das wollte sie nun ändern. Sie kletterte auf die Krone. Dann sprang sie an der anderen Seite wieder zu Boden und drückte die Schneedecke ein.
Ob sie gesehen worden war, wusste sie nicht. Sie beobachtete den Mann, der dort stehen geblieben war, wo sie ihn auch zum ersten Mal gesehen hatte.
Viel war von ihm nicht zu erkennen. Sein Gesicht jedenfalls nicht. Er war dunkel gekleidet und um seinen Körper hing ein langer Mantel. Auch das war nicht unnormal. Jeder Mensch hüllte sich bei diesen Temperaturen in eine warme Kleidung.
Er war tatsächlich gekommen. Anne konnte nicht mehr kneifen. Auch wenn dieser Darius so tat, als hätte er sie noch nicht entdeckt, so glaubte sie doch daran, dass sie aufgefallen war, denn sie war größer als die Grabsteine.
Hingehen oder nicht?
Ihr Herz schlug schneller. Anne Höller ärgerte sich darüber, dass sie so nervös war. Dabei war sie längst kein Teenie mehr, aber was sie hier vorhatte, machte sie schon nervös.
Darius hatte sie gesehen, denn er hob kurz den rechten Arm und winkte ihr zu.
Ja, sie musste gehen. Wie eine Schlafwandlerin bewegte sich die Frau an den Gräbern vorbei. Sie ärgerte sich darüber, dass sie so nervös war.
Auf der anderen Seite hatte sie es sich selbst zuzuschreiben.
Darius kam ihr nicht entgegen. Er wartete und hielt seine Arme vor der Brust verschränkt. So wirkte er wie jemand, der in der Kälte eingefroren war.
Anne verlangsamte ihre Schritte ein wenig. Eilig hatte sie es nicht mehr.
Dieser Mensch in seiner etwas arroganten Haltung erinnerte sie an eine düstere Gestalt, die sie aus dem Kino kannte. Dabei kam ihr ein Vampirfilm in den Sinn, den sie vor einigen Jahren mal gesehen hatte.
Da ging es um den blutsaugenden Fürsten Dracula, und er hatte im Film dieselbe Haltung eingenommen wie dieser Darius.
Zurück konnte sie nicht mehr, und so zwang sie sogar ein Lächeln auf ihre Lippen. Je näher sie kam, umso besser konnte sie ihn sehen. Er war recht groß und schlank. Sein Haar war dunkel und wuchs an beiden Seiten des Kopfes bis über die Ohren hinweg. Er trug einen langen schwarzen Mantel. Das war schon okay, aber sie vermisste den Schal, der bei dieser Kälte eigentlich seinen Hals hätte umschlingen müssen.
Anne sah, dass der Mantel nicht mal bis zum Hals hin zugeknöpft war.
Da standen die ersten Knöpfe offen, und so war das Schimmern eines hellen Hemdenstoffs zu sehen.
Das war schon komisch.
Anne ging trotzdem weiter. Darius’ Gesicht war heller als seine Kleidung.
Es wirkte wie ein bleicher Fleck in der Dunkelheit und bewegte sich auch nicht Der Mann schaute ihr nur entgegen Seine Haltung veränderte sich nicht.
Wieder schoss es ihr durch den Kopf, dass sie es mit einem arroganten Typen zu tun hatte. Sicherlich würde auch der Dialog so verlaufen, und darauf stellte sie sich schon mal ein.
Einen normalen Schritt von ihm entfernt blieb sie stehen. Nicht weit von einem Grabstein, der so hoch aus dem Boden ragte, dass sie sich an ihm abstützen konnte.
Er sprach sie an. Seine Stimme klang dunkel und dabei auch volltönend »Du bist Anne.«
»Ja, das bin ich.« Sie ärgerte siel dass ihre Stimme so kratzig und leise klang.
»Willkommen, ich bin Darius.« Seine Haltung veränderte sich und er streckte ihr seine Rechte entgegen.
Anne wollte nicht unhöflich sein. Sie trug keine Handschuhe und holte
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