1605 - Blutnacht - Liebesnacht
er sich das Treffen nicht so vorgestellt. Erst als wir uns gegenübergestanden hatten, war ihm wohl bewusst geworden, mit wem er es zu tun hatte.
Ich wich den Grabsteinen und Kreuzen aus. Manche Hindernisse konnte ich mit einem Satz überwinden, und ich sah, dass ich aufholte.
Dann tauchte die Innenseite der Mauer auf. Sie war nicht mehr so gut zu erkennen wie in der klaren Nacht. Jetzt sah sie mehr aus wie ein breiter Schatten. Überspringen würde er sie zwar können, aber das war nicht einfach, und so stieg meine Hoffnung.
Er schaute sich noch mal um. Innerhalb des Vorhangs aus Eisregen wirkten seine Bewegungen irgendwie grotesk. Er lief dabei weiter und übersah einen Grabstein.
Darius stolperte.
Auch ein Vampir musste bestimmten Gesetzen folgen. Er konnte sich nicht mehr halten, er kippte zur Seite, landete aber nicht im Schnee, denn er konnte sich noch rechtzeitig abstützen und kam wieder hoch, wobei er nicht mehr normal lief, sondern sich stolpernd und geduckt weiter bewegte, was mir natürlich entgegenkam. Denn ich lief weiter und erreichte ihn, als er seine ersten Schritte weiter nach vorn stolperte.
Ich hätte ihm eine Kugel in den Balg schießen können. Das wäre normal gewesen, aber mir schoss plötzlich eine andere Möglichkeit durch den Kopf.
Die setzte ich sofort in die Tat um. Es war kein Problem mehr, ihn zu erreichen. Ich packte zu und schleuderte ihn zur Seite.
Ich hatte nur die linke Hand genommen, doch all meine Wut in diesen Kraftakt gelegt. Der Blutsauger flog zur Seite, er geriet dabei ins Trudeln und war nicht mehr in der Lage, sich auf den Beinen zu halten.
Es sah so aus, als hätte das aus dem Schnee ragende Kreuz nur auf ihn gewartet. Es war ein Kruzifix aus Eisen, recht hoch und an seinem oberen Ende mit einer Spitze versehen, die eine kleine weiße Schneehaube trug.
Mit dem Rücken zuerst fiel Darius auf das Kreuz. Der Regisseur eines Horrorfilms hätte diese Szene nicht besser vorbereiten können.
Und ich war diesmal der Zuschauer. Durch die Wucht des Aufpralls war die Spitze des Kreuzes tief in den Körper eingedrungen. Ich war mir sicher, dass sie auch das bewegungslose Herz des Blutsaugers erwischt hatte.
Er hing praktisch auf dem Kreuz. Er zitterte. Er schlug mit den Armen um sich, ohne etwas zu erreichen. Sein Gesicht war grauenhaft verzerrt, das sah ich trotz der äußerst miesen Sicht. Zudem war ich nahe an ihn herangetreten.
Es war ein Kampf gegen den endgültigen Tod, und den verlor Darius. Er schrie nicht mal. Oder wenn es stumme Schreie gab, dann gab er die möglicherweise ab, aber darüber dachte ich nicht weiter nach.
Ich schaute seinem Vergehen zu. Und ich sah, dass altes Blut aus seinem offenen Mund schoss, das sich auf seinem Kinn verteilte und von den Eiskörnern verdünnt wurde.
Er sackte noch ein Stück tiefer.
Zugleich wurden seine Bewegungen schwächer. Die Haut in seinem Gesicht nahm einen anderen Farbton an. Sie wurde noch grauer und sah jetzt aus, als würde sie weggespült.
Er war vernichtet, das stand fest. Ich ließ ihn auch so liegen. Später würde ich ihn dann vom Kreuz befreien. Zunächst aber waren Dagmar Hansen und Moni Schmitz wichtiger.
Beide fand ich lebend vor.
Aber in der unmittelbaren Nähe des Autos lag eine Frau, deren Kopf zerschossen aussah und die einmal eine Vampirin gewesen war.
Neben dem Beifahrersitz stand die junge Moni Schmitz, die mir in die Arme fiel, als ich kam. Sie zitterte am gesamten Leib. Ich wollte ihr Trost spenden. Da fiel mein Blick in den Wagen. Dort saß Dagmar Hansen hinter dem Lenkrad und hatte ein Handy gegen ihr linkes Ohr gepresst.
Mich hatte sie noch nicht gesehen, und so wartete ich, bis sie ihr Gespräch beendet hatte.
Erst dann schob ich Moni zur Seite und öffnete die Beifahrertür. Dagmar drehte sich zu mir hin. Der gelöste Ausdruck in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen. Es hatte allerdings nichts mit der Vernichtung der Blutsaugerin zu tun. Es lag an dem Telefongespräch, das sie geführt hatte.
»John!«, flüsterte sie, und dabei glitzerten Tränen in ihren Augen.
»Harry - Harry…«
»Was ist mit ihm?«
»Er ist aus dem Koma erwacht!«
Ich schob mich weiter in den Wagen und umarmte Dagmar, denn auch mich erfüllte eine tiefe Freude.
So hatte diese eisige und höllische Nacht doch noch ein gutes Ende gefunden…
ENDE
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