1607 - Totenlied der Diva
dass sich Godwin nicht geirrt hatte und der Gesang tatsächlich existierte.
Sehr intensiver betrachtete sie das Gesicht ihres Mannes. Sie wollte erkennen, ob er unter dem Gesang wie unter körperlichen Schmerzen litt, doch darauf wies nichts ihn.
»Sie singt noch immer.«
»Und weiter?«
»Es ist ein Klage-oder Totenlied geblieben. Ich kenne es nicht. Ich höre nur die Melodie. Wie eine Arie, die von einer Diva gesungen wird.«
Sophie Blanc hatte alles gehört und nicht viel davon begriffen. Es war nicht möglich, Zusammenhänge zu erkennen. Wo war die Verbindung zwischen dem Erscheinen des Ritters und dem fernen Gesang aus einer nicht sichtbaren Welt?
»Hast du eine Idee, was ich für dich tun kann, Godwin? Gib mir einen Hinweis und…«
»Ich weiß es nicht.«
»Der Würfel vielleicht?« Sophie hatte spontan gefragt, denn die Idee war ihr plötzlich gekommen, und sie sah, dass Godwin zusammenzuckte. In den ersten Sekunden war sein Verhalten nicht zu erklären, dann nickte er heftig.
»Gib ihn mir.«
Sophie atmete auf. Nicht nur, weil sie froh darüber war, etwas tun zu können, sondern auch, weil sich ihr Mann nicht aufgegeben hatte und die Sache selbst in die Hände nehmen wollte. Er wollte sich auf keinen Fall manipulieren lassen und schaute zu, wie Sophie mit dem Stuhl zurückrollte und sich der Schreibtischlade näherte, um sie zu öffnen. Sie wusste ja, wo ihr Mann den Würfel aufbewahrte, der so etwas wie ein Wahrsager und Zeiger war. Der Gefahren melden und Welten öffnen konnte, und auf den sich Godwin schon oft verlassen hatte.
Sie zog die Lade auf und sah den Würfel in seiner violetten Farbe vor sich liegen. Dass ihre Finger zitterten, ließ sich nicht vermeiden.
Sie nahm den Würfel behutsam an sich, und dabei huschte ein ernstes Lächeln über ihre Lippen. Sie wollte es nicht als einen halben Sieg ansehen, aber sie spürte bei der Berührung schon so etwas wie ein Kribbeln, und auch ihr Herzschlag hatte sich leicht beschleunigt.
Sie hob ihn aus der Lade empor, schaute dabei auf die Fläche und sah nichts. Der Würfel ließ keinen Blick in sein Inneres zu, und es entstanden auch dort keine Bewegungen.
Sophie fühlte sich verpflichtet, einen Kommentar abzugeben. Sie nickte ihrem Mann zu und sagte mit leiser Stimme: »Es ist alles in Ordnung, Godwin.«
»Ja, das hoffe ich.«
»Dann nimm ihn.«
Godwin streckte ihr bereits die Hände entgegen. Es sah aus, als würde ihn das eine gewisse Anstrengung kosten, und er lächelte, als er den Würfel berührte.
»Tut es gut?«, fragte Sophie.
»Ja, es ist ein gutes Gefühl.«
»Und was ist mit dem Gesang?«
»Ich höre ihn immer noch.«
»Klar.« Sie ließ den Würfel los und ging einen Schritt zurück. Dabei strich sie durch ihr Haar, und man sah ihr die Nervosität an. Es war nicht ungefährlich, was Godwin vorhatte, aber es gab keinen anderen Weg zum Ziel.
Der Templer hielt den Würfel zwischen seinen Händen fest und lehnte sich zurück.
Sophie wusste, dass es nicht gut war, wenn sie ihn jetzt ansprach. Er brauchte seine gesamte Konzentration, um an sein Ziel zu gelangen, wo immer das auch liegen mochte.
Für Godwin gab es nur noch den Würfel, auf den er schaute.
Um ihn zu aktivieren, brauchte er die höchste Konzentration und durfte sich von nichts ablenken lassen. Da hätte auch das Totenlied in seinem Kopf gestört. Nur konnte er es nicht abstellen. Er musste sich darauf verlassen, dass die Sängerin von selbst aufhörte.
Er richtete den Blick nach unten, um auf eine der Würfelflächen zu schauen. Er bemühte sich dabei, dass seine Hände nicht zitterten. Es war nicht leicht, sich zu einer inneren Ruhe zu zwingen, aber Godwin schaffte es.
Um ihn herum war es still. Auch Sophie atmete so flach wie möglich, denn sie wollte ihn auf keinen Fall stören oder ablenken. Dann hätte sie alles kaputt gemacht. Aber innerlich war sie schon aufgewühlt, denn sie hätte ihrem Mann gern geholfen.
Es geschah in den nächsten Sekunden nichts.
Godwin konzentrierte sich weiterhin auf den Würfel. Dabei blieb sein Blick starr auf die Oberfläche gerichtet. Das Innere des Würfels war so immens wichtig. Er hoffte, dass es ihm genau die Botschaft übermittelte, die er so nötig brauchte.
Diese Sitzungen waren ihm nicht fremd. Er wusste, wie er sie einzuschätzen hatte. Der Würfel oder die in ihm steckende Macht ließ sich nicht treiben. Er reagierte nur, wenn er es wollte, aber er war nie falsch. Er zeigte dem Templer die reine Wahrheit, und so
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