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1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist

1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist

Titel: 1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Gentle
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die Straße hinunter und blickte dann auch über die Schulter zurück. Ein weiterer Mann humpelte hinter mir die Straße entlang. Ich hätte nach Türen und Fenstern Ausschau gehalten, doch er kam trotz seines Humpelns rasch genug heran, dass ich instinktiv nach meinem Dolch griff. Es war ein Irrer, einer jener Wahnsinnigen, die sabbernd vor Türen sitzen und Stimmen hören wie Gottes Heilige – was uns nur zeigt, dass Heilige bei weitem nicht so weise sind, wie man uns gelehrt hat.
    Oder besser: Es konnte solch ein Mann sein …
    Der blinde Mann hob den Stock.
    Instinktiv nahmen meine Füße Duellposition ein. Ich wich einen halben Schritt zurück, als brauchte ich Platz, um blankzuziehen. Ein Blinder und ein sabbernder Irrer …
    »Master!« Der Stock des blinden Mannes beschrieb einen weiten Bogen in der Luft, und er suchte mit der Spitze nach mir. »Bitte, ich weiß nicht, wo ich heute Nacht schlafen soll. Die Frühlingsnächte sind kalt genug, dass sie einen töten können. Ich bin ein kranker Mann. Nur ein Penny, Sir, nur ein Penny.«
    Ich legte die Hand ans Schwert – und ein betäubendes Gewicht traf mich von oben auf den Kopf und die rechte Schulter.
    Ich fiel auf die Knie. In meinem Kopf drehte sich alles. Was mich getroffen hatte, fühlte sich wie ein ganzer Mann an.
    Ich wand mich wie ein Aal, zwang meine Hand zum Rapier und riss es aus der Scheide. Eine genagelte Stiefelsohle quetschte meine Hand zwischen dem Heft des Rapiers und den Pflastersteinen ein. Mein Unterarm, von den Fingern bis zum Ellbogen, explodierte förmlich vor Schmerz.
    Kräftige Arme griffen nach mir. Mit der freien Hand packte ich die Dolchhand des Mannes, und gemeinsam rollten wir über den Boden. Kurz sah ich die Giebelbalken und den Putz über mir … Da war ein offenes Gitter, aus dem der Mann gesprungen sein musste.
    Der Dolch fiel ihm aus der Hand und verschwand. Mit beiden Händen packte er meine Handgelenke und grub die Fingernägel hinein. Ich kam nicht an meine Waffen heran. Eine weitere Hand raste nach unten, und der Stock des Blinden bescherte mir eine Platzwunde an der Stirn.
    Der Irre trat nach mir, während ich mit den anderen beiden über den Boden rollte und kämpfte.
    Es gelang mir, mich halb aufzurichten … und wieder wurde ich nach unten gedrückt, als ein, zwei, drei weitere zerlumpte Männer sich auch noch in das Gemenge stürzten. Drei weitere Schläge trafen mich. Ich hörte meine Rapierscheide brechen. Der Mann hielt meine Handgelenke mit der Kraft eines Wahnsinnigen fest. Ich kam an keine meiner beiden Waffen heran.
    Blut brannte mir in den Augen. Ich war unter einer sich windenden Masse von Männern begraben. Männer mit Krücken, die sie gehoben hatten, um auf mich einzuschlagen; Männer mit bandagierten Armen, mit wilden roten Augen in leichenblassen Gesichtern …
    Das sind keine Irren, keine Armen, sondern kräftige Bettler! Mein ursprünglicher Vorsatz, keine Krüppel und Schwachsinnigen anzugreifen, war vergessen: Ich begann zurückzuschlagen. Sie waren nicht immer dort, wo ich hinpackte.
    Weder bekam ich einen von ihnen richtig zu fassen, um mit ihm ringen zu können, noch konnte ich den Schlägen und Tritten ausweichen. Ich landete mit dem Gesicht im Dreck und auf den Pflastersteinen und tastete nach meinem Schwert und meinem Dolch – ohne Erfolg.
    Eine Stiefelspitze traf mich an der Lippe, und Schmerz schoss durch meinen Kiefer. Blut strömte über meine Hand und auf die Erde. Ich griff zu – kein Mann da; nie war einer da, wo ich hingriff.
    Das ist … Das ist, als würde ich noch einmal gegen Robert Fludd kämpfen.
    Innerhalb weniger Sekunden war ich am Boden festgenagelt: das Gesicht nach unten, die Beine gespreizt. Ich konnte mich unter dem Gewicht von acht oder neun von ihnen nicht mehr bewegen, die genauso groß und stark waren wie ich.
    Der ›Blinde‹ hockte sich vor mich.
    »Jetzt hör gut zu, mein Freund.« Er grinste und entblößte die abgebrochenen Stümpfe seiner letzten paar Zähne. Die schwarzen Fäden hoben sich, die an seine Augenlider geklebt waren, und er schaute mich an.
    Ruckartig versuchte ich, mich nach ihm zu strecken, doch das Gewicht der Männer auf mir hielt mich unten: Ich konnte ihm weder die Augen ausdrücken noch die Eier zerquetschen. Ein Tritt traf mich an der Schläfe und rief ein Pfeifen in meinem Ohr hervor.
    Ich wollte an einen Raub glauben: Welche Ironie, eine Börse nur eine Stunde, nachdem man sie erhalten hat, wieder zu verlieren! Aber sie

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